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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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dem der Vergangenheit und Gegenwart? Dadurch, daß die Idee,
welche der Mensch an sich mit oder ohne Willen zu verwirklichen ge¬
zwungen werden soll, nicht mehr christlich, sondern sittlich,
daß der Mensch, der noch nicht nach dieser Idee umgeschaffen ist,
nicht mehr der "natürliche Mensch/' oder der "alte Adam," sondern
"roh und unaufgeklärt," daß das Erzeugniß, welches aus jedem Einzelnen
herausgebildet werden soll, nicht mehr der Christ oder das "Kind Got¬
tes," sondern "der wahre Mensch," daß der Proceß der Umwandlung
aus dem bösen, natürlichen Wesen in das geforderte gute Wesen nicht
mehr "Wiedergeburt," sondern "Bildung," daß die Anstalt, mittelst de¬
ren die Umwandlung erzwungen werden, soll, nicht mehr "Kirche,"
sondern "Schule," daß die allgemeinen Satze, in deren Aneignung und
Bekenntniß die Umwandlung besteht, nicht mehr "Dogmen," sondern
"Principien" und daß die Unterwerfung und Hingabe an dieselben nicht
mehr "Glaube," sondern "vernünftige Selbstbestimmung" heißt.

Uebrigens hat das neue Princip noch keinen weitern Inhalt, als
das Bewußtsein, daß es nicht das alte, sondern dessen Gegentheil,
oder vielmehr die "Umkehrung" deö alten ist. "Der Mensch," sagt
Rüge, "sucht das wahre Wesen" (früher nannte man dieses
"Gott," und ließ Gott Mensch werden, jetzt soll es Mensch heißen
und der Mensch soll Gott werden: man kehrt die Vorstellung nur
einfach um); "Religion ist ein Verhalten des Menschen zu seinem
wahren Wesen" (das neue Princip erzeugt also auch geständigermaßen
eine Religion); "das richtige Verhalten zu dem wahren Wesen ist
die Reform der Religion." "Und was ist das wahre Wesen?" Rüge
selbst wirft diese Frage einmal so mit dürren Worten auf. So ha¬
ben wir denn also eine ganz bestimmte Antwort zu erwarten. Er
gibt sie, hier ist sie- "Das wahre Wesen ist der Mensch, der in
der Gesellschaft vernünftig und frei geworden ist, die
humane Existenz des Menschen." Die Religion, setzt er hinzu,
verwandelt sich gegenwärtig, "insofern sie Theorie ist, in die Wissen¬
schaft von Natur und Menschen, insofern sie Praxis ist, in die Auf¬
gabe der menschlichen Gesellschaft. Die Glückseligkeit hört auf,
nur eine Hoffnung des Menschen zu sein, sie wird eine menschliche
Realität und ein geselliges Problem." Nehmen wir auch dies
it"ti". Wie der Glaube nicht mehr Glaube heißt, so heißt die Hoff¬
nung nicht mehr Hoffnung, sie heißt "Problem."

Ebenso darf der Name "Secten" nicht mehr geduldet werden.
Statt der Secten haben wir künftig nur "Parteien." Was


Grenztvten, 184". II. 36

dem der Vergangenheit und Gegenwart? Dadurch, daß die Idee,
welche der Mensch an sich mit oder ohne Willen zu verwirklichen ge¬
zwungen werden soll, nicht mehr christlich, sondern sittlich,
daß der Mensch, der noch nicht nach dieser Idee umgeschaffen ist,
nicht mehr der „natürliche Mensch/' oder der „alte Adam," sondern
„roh und unaufgeklärt," daß das Erzeugniß, welches aus jedem Einzelnen
herausgebildet werden soll, nicht mehr der Christ oder das „Kind Got¬
tes," sondern „der wahre Mensch," daß der Proceß der Umwandlung
aus dem bösen, natürlichen Wesen in das geforderte gute Wesen nicht
mehr „Wiedergeburt," sondern „Bildung," daß die Anstalt, mittelst de¬
ren die Umwandlung erzwungen werden, soll, nicht mehr „Kirche,"
sondern „Schule," daß die allgemeinen Satze, in deren Aneignung und
Bekenntniß die Umwandlung besteht, nicht mehr „Dogmen," sondern
„Principien" und daß die Unterwerfung und Hingabe an dieselben nicht
mehr „Glaube," sondern „vernünftige Selbstbestimmung" heißt.

Uebrigens hat das neue Princip noch keinen weitern Inhalt, als
das Bewußtsein, daß es nicht das alte, sondern dessen Gegentheil,
oder vielmehr die „Umkehrung" deö alten ist. „Der Mensch," sagt
Rüge, „sucht das wahre Wesen" (früher nannte man dieses
„Gott," und ließ Gott Mensch werden, jetzt soll es Mensch heißen
und der Mensch soll Gott werden: man kehrt die Vorstellung nur
einfach um); „Religion ist ein Verhalten des Menschen zu seinem
wahren Wesen" (das neue Princip erzeugt also auch geständigermaßen
eine Religion); „das richtige Verhalten zu dem wahren Wesen ist
die Reform der Religion." „Und was ist das wahre Wesen?" Rüge
selbst wirft diese Frage einmal so mit dürren Worten auf. So ha¬
ben wir denn also eine ganz bestimmte Antwort zu erwarten. Er
gibt sie, hier ist sie- „Das wahre Wesen ist der Mensch, der in
der Gesellschaft vernünftig und frei geworden ist, die
humane Existenz des Menschen." Die Religion, setzt er hinzu,
verwandelt sich gegenwärtig, „insofern sie Theorie ist, in die Wissen¬
schaft von Natur und Menschen, insofern sie Praxis ist, in die Auf¬
gabe der menschlichen Gesellschaft. Die Glückseligkeit hört auf,
nur eine Hoffnung des Menschen zu sein, sie wird eine menschliche
Realität und ein geselliges Problem." Nehmen wir auch dies
it«ti». Wie der Glaube nicht mehr Glaube heißt, so heißt die Hoff¬
nung nicht mehr Hoffnung, sie heißt „Problem."

Ebenso darf der Name „Secten" nicht mehr geduldet werden.
Statt der Secten haben wir künftig nur „Parteien." Was


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[0289] dem der Vergangenheit und Gegenwart? Dadurch, daß die Idee, welche der Mensch an sich mit oder ohne Willen zu verwirklichen ge¬ zwungen werden soll, nicht mehr christlich, sondern sittlich, daß der Mensch, der noch nicht nach dieser Idee umgeschaffen ist, nicht mehr der „natürliche Mensch/' oder der „alte Adam," sondern „roh und unaufgeklärt," daß das Erzeugniß, welches aus jedem Einzelnen herausgebildet werden soll, nicht mehr der Christ oder das „Kind Got¬ tes," sondern „der wahre Mensch," daß der Proceß der Umwandlung aus dem bösen, natürlichen Wesen in das geforderte gute Wesen nicht mehr „Wiedergeburt," sondern „Bildung," daß die Anstalt, mittelst de¬ ren die Umwandlung erzwungen werden, soll, nicht mehr „Kirche," sondern „Schule," daß die allgemeinen Satze, in deren Aneignung und Bekenntniß die Umwandlung besteht, nicht mehr „Dogmen," sondern „Principien" und daß die Unterwerfung und Hingabe an dieselben nicht mehr „Glaube," sondern „vernünftige Selbstbestimmung" heißt. Uebrigens hat das neue Princip noch keinen weitern Inhalt, als das Bewußtsein, daß es nicht das alte, sondern dessen Gegentheil, oder vielmehr die „Umkehrung" deö alten ist. „Der Mensch," sagt Rüge, „sucht das wahre Wesen" (früher nannte man dieses „Gott," und ließ Gott Mensch werden, jetzt soll es Mensch heißen und der Mensch soll Gott werden: man kehrt die Vorstellung nur einfach um); „Religion ist ein Verhalten des Menschen zu seinem wahren Wesen" (das neue Princip erzeugt also auch geständigermaßen eine Religion); „das richtige Verhalten zu dem wahren Wesen ist die Reform der Religion." „Und was ist das wahre Wesen?" Rüge selbst wirft diese Frage einmal so mit dürren Worten auf. So ha¬ ben wir denn also eine ganz bestimmte Antwort zu erwarten. Er gibt sie, hier ist sie- „Das wahre Wesen ist der Mensch, der in der Gesellschaft vernünftig und frei geworden ist, die humane Existenz des Menschen." Die Religion, setzt er hinzu, verwandelt sich gegenwärtig, „insofern sie Theorie ist, in die Wissen¬ schaft von Natur und Menschen, insofern sie Praxis ist, in die Auf¬ gabe der menschlichen Gesellschaft. Die Glückseligkeit hört auf, nur eine Hoffnung des Menschen zu sein, sie wird eine menschliche Realität und ein geselliges Problem." Nehmen wir auch dies it«ti». Wie der Glaube nicht mehr Glaube heißt, so heißt die Hoff¬ nung nicht mehr Hoffnung, sie heißt „Problem." Ebenso darf der Name „Secten" nicht mehr geduldet werden. Statt der Secten haben wir künftig nur „Parteien." Was Grenztvten, 184«. II. 36

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/289>, abgerufen am 23.07.2024.