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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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entschiedenen Widersprüche befinde, aber ich kann nicht umhin, ganz
ernstlich vor dem Wege zu warnen, auf welchem jetzt so manche jugend¬
liche Talente eine Proletarier-Poesie suchen. Liegt nicht in diesem
Worte selbst ein unmittelbarer Widerspruch? Kann man von dem
Proletariat den Begriff der Häßlichkeit, von der Poesie aber den Be¬
griff der Schönheit trennen? Kann und darf deshalb das Proletariat
an sich selber Gegenstand und Motiv der Poesie sein? Ein genaues
Ausmalen der Zustände des Proletariates, sobald man diese Zustände
zum Zwecke der Darstellung macht, gehört nicht der Poesie, es ist der
praktischen Thätigkeit zu überlassen; wenn sich die Poesie aber in die
Zustände des Proletariates hineintaucht, so muß sie den menschlichen
Kern erfassen und sie muß die Bewegung im Proletariate nur im
Zusammenhange mit der großen, allgemeinen, mit der ganzen Bewe¬
gung, mit der Idee der Menschheit, verbinden. So stellt sie das Pro¬
letariat unter einen großartigen Horizont; aber viele von denjenigen,
welche sich jetzt um eine Proletariats-Poesie bemühen, können nicht zu
einer großartigen Auffassung der Verhältnisse gelangen und sie meinen ,
schon, indem sie socialistisch peroriren, oder sentimental jammern, oder
grelle Schilderungen entwerfen, auf dem Wege zu einer neuen Poesie
zu wandeln. Dies ist ein Irrthum, der uns noch mit vielen literari¬
schen Lamentos beschenken wird. Der mag ein Dichter sein, der uns
das Proletariat in seinen Charakteren und Zuständen und in seiner
Verbindung mit den übrigen Positionen der Gesellschaft darstellt und
zwar saftig und kräftig, ohne Sentimentalität darstellt, aber der ist noch
kein Dichter, der über das Elend zu, jammern weiß und höchstens ein
paar Conflicte in vereinzelter Fassung auszumalen sucht. Auch der
ist kein Dichter, der in das Proletariat eine abstracte Sittlichkeit hin¬
einlegt und es von da aus zu modeln sucht. Wir müssen für die
neue Poesie statt der Jsolirung Zusammenhang, statt der Abstraktion
Plastik, statt der Sentimentalität eine erhöhte Wirklichkeit verlangen.
Wer diese Bedingungen erfüllen kann, der mag sich dann allerdings
auch an die Gestaltung des Proletariates mit seiner poetischen Kraft
heranmachen dürfen. Er wird nicht eine ständische, sondern eine Ge-
sammtwirkung erzielen müssen, wie sie z. B. schon Hebbel, um auf
das dramatische Gebiet überzugehen, ohne daß er schon in das Proleta¬
riat hineingriffe, in seiner "Maria Magdalena" und auf dem lyrischen,
Carl Beck in einigen Liedern erzielt hat.

Wir dürfen und müssen von unsern Romanen verlangen, daß sie
unser Leben im Ganzen fassen, daß sie es nicht immer trennen und


entschiedenen Widersprüche befinde, aber ich kann nicht umhin, ganz
ernstlich vor dem Wege zu warnen, auf welchem jetzt so manche jugend¬
liche Talente eine Proletarier-Poesie suchen. Liegt nicht in diesem
Worte selbst ein unmittelbarer Widerspruch? Kann man von dem
Proletariat den Begriff der Häßlichkeit, von der Poesie aber den Be¬
griff der Schönheit trennen? Kann und darf deshalb das Proletariat
an sich selber Gegenstand und Motiv der Poesie sein? Ein genaues
Ausmalen der Zustände des Proletariates, sobald man diese Zustände
zum Zwecke der Darstellung macht, gehört nicht der Poesie, es ist der
praktischen Thätigkeit zu überlassen; wenn sich die Poesie aber in die
Zustände des Proletariates hineintaucht, so muß sie den menschlichen
Kern erfassen und sie muß die Bewegung im Proletariate nur im
Zusammenhange mit der großen, allgemeinen, mit der ganzen Bewe¬
gung, mit der Idee der Menschheit, verbinden. So stellt sie das Pro¬
letariat unter einen großartigen Horizont; aber viele von denjenigen,
welche sich jetzt um eine Proletariats-Poesie bemühen, können nicht zu
einer großartigen Auffassung der Verhältnisse gelangen und sie meinen ,
schon, indem sie socialistisch peroriren, oder sentimental jammern, oder
grelle Schilderungen entwerfen, auf dem Wege zu einer neuen Poesie
zu wandeln. Dies ist ein Irrthum, der uns noch mit vielen literari¬
schen Lamentos beschenken wird. Der mag ein Dichter sein, der uns
das Proletariat in seinen Charakteren und Zuständen und in seiner
Verbindung mit den übrigen Positionen der Gesellschaft darstellt und
zwar saftig und kräftig, ohne Sentimentalität darstellt, aber der ist noch
kein Dichter, der über das Elend zu, jammern weiß und höchstens ein
paar Conflicte in vereinzelter Fassung auszumalen sucht. Auch der
ist kein Dichter, der in das Proletariat eine abstracte Sittlichkeit hin¬
einlegt und es von da aus zu modeln sucht. Wir müssen für die
neue Poesie statt der Jsolirung Zusammenhang, statt der Abstraktion
Plastik, statt der Sentimentalität eine erhöhte Wirklichkeit verlangen.
Wer diese Bedingungen erfüllen kann, der mag sich dann allerdings
auch an die Gestaltung des Proletariates mit seiner poetischen Kraft
heranmachen dürfen. Er wird nicht eine ständische, sondern eine Ge-
sammtwirkung erzielen müssen, wie sie z. B. schon Hebbel, um auf
das dramatische Gebiet überzugehen, ohne daß er schon in das Proleta¬
riat hineingriffe, in seiner „Maria Magdalena" und auf dem lyrischen,
Carl Beck in einigen Liedern erzielt hat.

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unser Leben im Ganzen fassen, daß sie es nicht immer trennen und


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[0261] entschiedenen Widersprüche befinde, aber ich kann nicht umhin, ganz ernstlich vor dem Wege zu warnen, auf welchem jetzt so manche jugend¬ liche Talente eine Proletarier-Poesie suchen. Liegt nicht in diesem Worte selbst ein unmittelbarer Widerspruch? Kann man von dem Proletariat den Begriff der Häßlichkeit, von der Poesie aber den Be¬ griff der Schönheit trennen? Kann und darf deshalb das Proletariat an sich selber Gegenstand und Motiv der Poesie sein? Ein genaues Ausmalen der Zustände des Proletariates, sobald man diese Zustände zum Zwecke der Darstellung macht, gehört nicht der Poesie, es ist der praktischen Thätigkeit zu überlassen; wenn sich die Poesie aber in die Zustände des Proletariates hineintaucht, so muß sie den menschlichen Kern erfassen und sie muß die Bewegung im Proletariate nur im Zusammenhange mit der großen, allgemeinen, mit der ganzen Bewe¬ gung, mit der Idee der Menschheit, verbinden. So stellt sie das Pro¬ letariat unter einen großartigen Horizont; aber viele von denjenigen, welche sich jetzt um eine Proletariats-Poesie bemühen, können nicht zu einer großartigen Auffassung der Verhältnisse gelangen und sie meinen , schon, indem sie socialistisch peroriren, oder sentimental jammern, oder grelle Schilderungen entwerfen, auf dem Wege zu einer neuen Poesie zu wandeln. Dies ist ein Irrthum, der uns noch mit vielen literari¬ schen Lamentos beschenken wird. Der mag ein Dichter sein, der uns das Proletariat in seinen Charakteren und Zuständen und in seiner Verbindung mit den übrigen Positionen der Gesellschaft darstellt und zwar saftig und kräftig, ohne Sentimentalität darstellt, aber der ist noch kein Dichter, der über das Elend zu, jammern weiß und höchstens ein paar Conflicte in vereinzelter Fassung auszumalen sucht. Auch der ist kein Dichter, der in das Proletariat eine abstracte Sittlichkeit hin¬ einlegt und es von da aus zu modeln sucht. Wir müssen für die neue Poesie statt der Jsolirung Zusammenhang, statt der Abstraktion Plastik, statt der Sentimentalität eine erhöhte Wirklichkeit verlangen. Wer diese Bedingungen erfüllen kann, der mag sich dann allerdings auch an die Gestaltung des Proletariates mit seiner poetischen Kraft heranmachen dürfen. Er wird nicht eine ständische, sondern eine Ge- sammtwirkung erzielen müssen, wie sie z. B. schon Hebbel, um auf das dramatische Gebiet überzugehen, ohne daß er schon in das Proleta¬ riat hineingriffe, in seiner „Maria Magdalena" und auf dem lyrischen, Carl Beck in einigen Liedern erzielt hat. Wir dürfen und müssen von unsern Romanen verlangen, daß sie unser Leben im Ganzen fassen, daß sie es nicht immer trennen und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/261>, abgerufen am 24.11.2024.