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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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hat Moos und Schimmel sich angesetzt auf der verlassenen Baustelle,
und die Gerüste sind morsch geworden, doch leicht ist Moos und
Schimmel entfernt und ein neues Gerüste gefertigt wie am Dome zu
Cöln. Scheint es doch, als wären die Genien, welche Joseph zu
wecken und um sich zu schaaren verstand, als treue Baugehülfen, ganz er¬
loschen und ausgegangen, das geschriebene Gesetz bestehet, doch fehlt es
an Leuten, groß genug, den Geist dieses Gesetzes zu erfassen, ihn be¬
fruchtend in das Leben zu tragen; daß aber diese Gesetze dennoch be¬
stehen, ist das Palladium Oesterreichs; vernünftig angepaßt den neuen
Formen der Jetztzeit, den neuentstandenen Interessen, können diese Ge¬
setze uns vollkommen regeneriren, sind wir erst erwacht aus langem
Winterschlafe.

Das Patriarchenthum, das man noch immer affectirt in unserer
Regierungsweise, reicht nicht aus, und gehört in die Bibel, es genügt
nicht an dem Willen^ gut zu regieren, wenn man darauf besteht, bei
den alten Formen und bei den alten Mitteln zu bleiben.

Im menschlichen Organismus bilden sich von Phase zu Phase
neue Krankheitsformen aus, die Heilkunde erfindet neue Mittel und
heilt sie, auch die Staatsorgairismen leiden an neuen Krankheitsfor-
men, ähnlich den frühern und doch so ganz anders, vielleicht unheil¬
bar, chronisch langwierigen Verlaufs, und dennoch glauben Regie¬
rungen -- nicht die österreichische allein -- man könne die neue
Krankheit mit den alten Mitteln heilen, kramte man doch die Jesui¬
ten aus den alten Dispensatorien wieder aus, ein Mittel, das sich als
gefährliches Reagens bewies; das homöopathische Heilverfahren
scheint hier das gerathenste.

Oesterreich leidet an einem argen Grundübel vererblicher Natur,
ich möchte es ein Herzleiden nennen, Oesterreich hat keinen Pa¬
triotismus! dieses belebende, elektrische Fluidum im Staatskörper
fehlt uns ganz, daher die Stagnation. Der Oesterreicher, ich nehme
den gebornen Wiener aus, hat keinen Nationalstolz als Oesterrei¬
cher, es fehlt uns dieser mächtige Hebel der Nationalprosperität, dar¬
in ist uns nicht etwa nur Frankreich und England, auch Preußen,
Sachsen, Baiern, manch kleiner Bündler, ja sogar Rußland voraus!

Zusammengeheirathet, zusammengeerbt bildet Oesterreichs Mon¬
archie ein großes Conglomerat, aus den verschiedensten Gebieten und
Nationalitäten zusammengewürfelt, die von einander höchstens antipa-
thisch und sich befeindend Notiz nehmen, kein befreundendes Band ver¬
einitee bilden leichsam nur einen Zollverein.


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Grenzboten, I8i". II. 31

hat Moos und Schimmel sich angesetzt auf der verlassenen Baustelle,
und die Gerüste sind morsch geworden, doch leicht ist Moos und
Schimmel entfernt und ein neues Gerüste gefertigt wie am Dome zu
Cöln. Scheint es doch, als wären die Genien, welche Joseph zu
wecken und um sich zu schaaren verstand, als treue Baugehülfen, ganz er¬
loschen und ausgegangen, das geschriebene Gesetz bestehet, doch fehlt es
an Leuten, groß genug, den Geist dieses Gesetzes zu erfassen, ihn be¬
fruchtend in das Leben zu tragen; daß aber diese Gesetze dennoch be¬
stehen, ist das Palladium Oesterreichs; vernünftig angepaßt den neuen
Formen der Jetztzeit, den neuentstandenen Interessen, können diese Ge¬
setze uns vollkommen regeneriren, sind wir erst erwacht aus langem
Winterschlafe.

Das Patriarchenthum, das man noch immer affectirt in unserer
Regierungsweise, reicht nicht aus, und gehört in die Bibel, es genügt
nicht an dem Willen^ gut zu regieren, wenn man darauf besteht, bei
den alten Formen und bei den alten Mitteln zu bleiben.

Im menschlichen Organismus bilden sich von Phase zu Phase
neue Krankheitsformen aus, die Heilkunde erfindet neue Mittel und
heilt sie, auch die Staatsorgairismen leiden an neuen Krankheitsfor-
men, ähnlich den frühern und doch so ganz anders, vielleicht unheil¬
bar, chronisch langwierigen Verlaufs, und dennoch glauben Regie¬
rungen — nicht die österreichische allein — man könne die neue
Krankheit mit den alten Mitteln heilen, kramte man doch die Jesui¬
ten aus den alten Dispensatorien wieder aus, ein Mittel, das sich als
gefährliches Reagens bewies; das homöopathische Heilverfahren
scheint hier das gerathenste.

Oesterreich leidet an einem argen Grundübel vererblicher Natur,
ich möchte es ein Herzleiden nennen, Oesterreich hat keinen Pa¬
triotismus! dieses belebende, elektrische Fluidum im Staatskörper
fehlt uns ganz, daher die Stagnation. Der Oesterreicher, ich nehme
den gebornen Wiener aus, hat keinen Nationalstolz als Oesterrei¬
cher, es fehlt uns dieser mächtige Hebel der Nationalprosperität, dar¬
in ist uns nicht etwa nur Frankreich und England, auch Preußen,
Sachsen, Baiern, manch kleiner Bündler, ja sogar Rußland voraus!

Zusammengeheirathet, zusammengeerbt bildet Oesterreichs Mon¬
archie ein großes Conglomerat, aus den verschiedensten Gebieten und
Nationalitäten zusammengewürfelt, die von einander höchstens antipa-
thisch und sich befeindend Notiz nehmen, kein befreundendes Band ver¬
einitee bilden leichsam nur einen Zollverein.


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Grenzboten, I8i«. II. 31
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[0249] hat Moos und Schimmel sich angesetzt auf der verlassenen Baustelle, und die Gerüste sind morsch geworden, doch leicht ist Moos und Schimmel entfernt und ein neues Gerüste gefertigt wie am Dome zu Cöln. Scheint es doch, als wären die Genien, welche Joseph zu wecken und um sich zu schaaren verstand, als treue Baugehülfen, ganz er¬ loschen und ausgegangen, das geschriebene Gesetz bestehet, doch fehlt es an Leuten, groß genug, den Geist dieses Gesetzes zu erfassen, ihn be¬ fruchtend in das Leben zu tragen; daß aber diese Gesetze dennoch be¬ stehen, ist das Palladium Oesterreichs; vernünftig angepaßt den neuen Formen der Jetztzeit, den neuentstandenen Interessen, können diese Ge¬ setze uns vollkommen regeneriren, sind wir erst erwacht aus langem Winterschlafe. Das Patriarchenthum, das man noch immer affectirt in unserer Regierungsweise, reicht nicht aus, und gehört in die Bibel, es genügt nicht an dem Willen^ gut zu regieren, wenn man darauf besteht, bei den alten Formen und bei den alten Mitteln zu bleiben. Im menschlichen Organismus bilden sich von Phase zu Phase neue Krankheitsformen aus, die Heilkunde erfindet neue Mittel und heilt sie, auch die Staatsorgairismen leiden an neuen Krankheitsfor- men, ähnlich den frühern und doch so ganz anders, vielleicht unheil¬ bar, chronisch langwierigen Verlaufs, und dennoch glauben Regie¬ rungen — nicht die österreichische allein — man könne die neue Krankheit mit den alten Mitteln heilen, kramte man doch die Jesui¬ ten aus den alten Dispensatorien wieder aus, ein Mittel, das sich als gefährliches Reagens bewies; das homöopathische Heilverfahren scheint hier das gerathenste. Oesterreich leidet an einem argen Grundübel vererblicher Natur, ich möchte es ein Herzleiden nennen, Oesterreich hat keinen Pa¬ triotismus! dieses belebende, elektrische Fluidum im Staatskörper fehlt uns ganz, daher die Stagnation. Der Oesterreicher, ich nehme den gebornen Wiener aus, hat keinen Nationalstolz als Oesterrei¬ cher, es fehlt uns dieser mächtige Hebel der Nationalprosperität, dar¬ in ist uns nicht etwa nur Frankreich und England, auch Preußen, Sachsen, Baiern, manch kleiner Bündler, ja sogar Rußland voraus! Zusammengeheirathet, zusammengeerbt bildet Oesterreichs Mon¬ archie ein großes Conglomerat, aus den verschiedensten Gebieten und Nationalitäten zusammengewürfelt, die von einander höchstens antipa- thisch und sich befeindend Notiz nehmen, kein befreundendes Band ver¬ einitee bilden leichsam nur einen Zollverein. , Grenzboten, I8i«. II. 31

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/249>, abgerufen am 28.11.2024.