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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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ist ergötzlich, daß Rüge hiev aus der Grenzscheide zwischen Deutsch¬
land und Frankreich seinen ganzen Traum als ein Wolkenbild am Him¬
mel erblickt; ein Luftschloß war es, dem er nachjagte, und ein Luft¬
schloß ist es geblieben.

Wir haben gesehen, in welcher traurigen Gestalt ihm Deutschland
erschien; sehen wir nun weiter, in welchem Lichte sich ihm Frankreich
darstellte. Was ist es, pas ihm Frankreich so einladend von weitem
und nachher in der Nähe so liebenswert!) macht, als er uns sagt, daß
'er es gefunden? Wie malt sich in seiner Phantasie der französische
Geist? Von vornherein betrachtet er Paris als "die Wiege des neuen
Europa;" "am Ende unserer Fahrt finden wir das große Thal von
Paris, den weiten Zauberkessel, in dem die Weltgeschichte siedet, aus
dem sie immer von neuem hervorsprudelt. Und da er Paris zuerst mit
Augen sieht, begrüßt er es als "diese große neue Welt." Nun erst
begreift er die ganze Wichtigkeit dieser ungeheuern Stadt." Auch Wien
und Rom sind zwar groß und schön gelegen, aber "man vergißt es
nie, daß sie von Eseln bewohnt . . ., während hier (in Paris), nur
hier der Brennpunkt des europäischen Geistes, das Herz der Weltge¬
schichte vor uns liegt." Zwar erfahren wir bald nachher, daß die
Revolution des "Geistes" nur in Deutschland vollendet worden und
daß in Frankreich auch die besten und aufgeklärtesten Köpfe jetzt voll
Nebeleien stecken; aber waS thut das? Einstweilen gilt es Deutsch¬
land schelten und Paris in die Wolken heben. "Die europäische Ge¬
schichte knüpft sich noch immer an die Geschichte von Paris." "Für
Deutschland ist Paris nicht minder wichtig, als für die französtsche" De-
partemente. Unsere Siege und unsere Niederlagen erleben wir in Paris."
Eine Kritik lassen natürlich solche unbestimmte Phrasen nicht zu, die
Phantasie ist ihre Schöpferin: wir können sie also nur zu Protokoll
nehme". Soviel von der Stadt, miumehr das Volk! Rüge erblickt
in den Franzosen "das humanste Volk der Erde;" zwischen allen poli¬
tischen Mißständen hindurch entdeckt und erkennt er "die französische
Freiheit, die Biloung, die Haltung und die Praxis des humanster
Volkes." Die Humanität ist^Ruge'ö Ideal; die philosophische Fahne,
welche er aufzupflanzen sucht, ist der Humanismus : die Humanität
ist sein Herzenswunsch, Frankreich betrachtet er als das Land seiner
Wünsche, wie sollte da nicht das französtsche Volk das humanste sein?
Eigentlich aber nicht sowohl das französische Volk, als vielmehr nur
die Bevölkerung von Paris. "Paris gehört der Welt," sagt er; "die
Form seines Lebens hat eine Macht der Befreiung, die jeder bildungs-


ist ergötzlich, daß Rüge hiev aus der Grenzscheide zwischen Deutsch¬
land und Frankreich seinen ganzen Traum als ein Wolkenbild am Him¬
mel erblickt; ein Luftschloß war es, dem er nachjagte, und ein Luft¬
schloß ist es geblieben.

Wir haben gesehen, in welcher traurigen Gestalt ihm Deutschland
erschien; sehen wir nun weiter, in welchem Lichte sich ihm Frankreich
darstellte. Was ist es, pas ihm Frankreich so einladend von weitem
und nachher in der Nähe so liebenswert!) macht, als er uns sagt, daß
'er es gefunden? Wie malt sich in seiner Phantasie der französische
Geist? Von vornherein betrachtet er Paris als „die Wiege des neuen
Europa;" „am Ende unserer Fahrt finden wir das große Thal von
Paris, den weiten Zauberkessel, in dem die Weltgeschichte siedet, aus
dem sie immer von neuem hervorsprudelt. Und da er Paris zuerst mit
Augen sieht, begrüßt er es als „diese große neue Welt." Nun erst
begreift er die ganze Wichtigkeit dieser ungeheuern Stadt." Auch Wien
und Rom sind zwar groß und schön gelegen, aber „man vergißt es
nie, daß sie von Eseln bewohnt . . ., während hier (in Paris), nur
hier der Brennpunkt des europäischen Geistes, das Herz der Weltge¬
schichte vor uns liegt." Zwar erfahren wir bald nachher, daß die
Revolution des „Geistes" nur in Deutschland vollendet worden und
daß in Frankreich auch die besten und aufgeklärtesten Köpfe jetzt voll
Nebeleien stecken; aber waS thut das? Einstweilen gilt es Deutsch¬
land schelten und Paris in die Wolken heben. „Die europäische Ge¬
schichte knüpft sich noch immer an die Geschichte von Paris." „Für
Deutschland ist Paris nicht minder wichtig, als für die französtsche» De-
partemente. Unsere Siege und unsere Niederlagen erleben wir in Paris."
Eine Kritik lassen natürlich solche unbestimmte Phrasen nicht zu, die
Phantasie ist ihre Schöpferin: wir können sie also nur zu Protokoll
nehme». Soviel von der Stadt, miumehr das Volk! Rüge erblickt
in den Franzosen „das humanste Volk der Erde;" zwischen allen poli¬
tischen Mißständen hindurch entdeckt und erkennt er „die französische
Freiheit, die Biloung, die Haltung und die Praxis des humanster
Volkes." Die Humanität ist^Ruge'ö Ideal; die philosophische Fahne,
welche er aufzupflanzen sucht, ist der Humanismus : die Humanität
ist sein Herzenswunsch, Frankreich betrachtet er als das Land seiner
Wünsche, wie sollte da nicht das französtsche Volk das humanste sein?
Eigentlich aber nicht sowohl das französische Volk, als vielmehr nur
die Bevölkerung von Paris. „Paris gehört der Welt," sagt er; „die
Form seines Lebens hat eine Macht der Befreiung, die jeder bildungs-


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[0239] ist ergötzlich, daß Rüge hiev aus der Grenzscheide zwischen Deutsch¬ land und Frankreich seinen ganzen Traum als ein Wolkenbild am Him¬ mel erblickt; ein Luftschloß war es, dem er nachjagte, und ein Luft¬ schloß ist es geblieben. Wir haben gesehen, in welcher traurigen Gestalt ihm Deutschland erschien; sehen wir nun weiter, in welchem Lichte sich ihm Frankreich darstellte. Was ist es, pas ihm Frankreich so einladend von weitem und nachher in der Nähe so liebenswert!) macht, als er uns sagt, daß 'er es gefunden? Wie malt sich in seiner Phantasie der französische Geist? Von vornherein betrachtet er Paris als „die Wiege des neuen Europa;" „am Ende unserer Fahrt finden wir das große Thal von Paris, den weiten Zauberkessel, in dem die Weltgeschichte siedet, aus dem sie immer von neuem hervorsprudelt. Und da er Paris zuerst mit Augen sieht, begrüßt er es als „diese große neue Welt." Nun erst begreift er die ganze Wichtigkeit dieser ungeheuern Stadt." Auch Wien und Rom sind zwar groß und schön gelegen, aber „man vergißt es nie, daß sie von Eseln bewohnt . . ., während hier (in Paris), nur hier der Brennpunkt des europäischen Geistes, das Herz der Weltge¬ schichte vor uns liegt." Zwar erfahren wir bald nachher, daß die Revolution des „Geistes" nur in Deutschland vollendet worden und daß in Frankreich auch die besten und aufgeklärtesten Köpfe jetzt voll Nebeleien stecken; aber waS thut das? Einstweilen gilt es Deutsch¬ land schelten und Paris in die Wolken heben. „Die europäische Ge¬ schichte knüpft sich noch immer an die Geschichte von Paris." „Für Deutschland ist Paris nicht minder wichtig, als für die französtsche» De- partemente. Unsere Siege und unsere Niederlagen erleben wir in Paris." Eine Kritik lassen natürlich solche unbestimmte Phrasen nicht zu, die Phantasie ist ihre Schöpferin: wir können sie also nur zu Protokoll nehme». Soviel von der Stadt, miumehr das Volk! Rüge erblickt in den Franzosen „das humanste Volk der Erde;" zwischen allen poli¬ tischen Mißständen hindurch entdeckt und erkennt er „die französische Freiheit, die Biloung, die Haltung und die Praxis des humanster Volkes." Die Humanität ist^Ruge'ö Ideal; die philosophische Fahne, welche er aufzupflanzen sucht, ist der Humanismus : die Humanität ist sein Herzenswunsch, Frankreich betrachtet er als das Land seiner Wünsche, wie sollte da nicht das französtsche Volk das humanste sein? Eigentlich aber nicht sowohl das französische Volk, als vielmehr nur die Bevölkerung von Paris. „Paris gehört der Welt," sagt er; „die Form seines Lebens hat eine Macht der Befreiung, die jeder bildungs-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/239>, abgerufen am 25.08.2024.