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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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nicht zum Vertrauten gemacht haben. Diese Angelegenheit wird,
fürchte ich, wie Manches auf Erden, ohne genügende Lösung bleiben.
Sie müssen sich begnügen, mein ehrwürdiger Freund, den Ueberleben-
den Ihres unglücklichen Verwandten eine sorgenfreie Zukunft zu be¬
reiten. Aber betrachten wir diesen Fall nicht alleinstehend. Er ist nur
ein herausgeschlagenes Glied einer furchtbaren Kette, die sich immer
weiter ausdehnt an der Krankheit unserer Zeit, damit meine ich: die
Noth der Hütten."

Das Thema war null ein allgemeines, aber so wichtig geworden,
daß die Männer -- auch der Graf war zugegen -- sich ganz dabei
aufregten. Combinationen aller Art wurden aufgestellt, aber sie grif¬
fen dem Uebel nicht an die Wurzel -- das können nur höhere Ge¬
walten, welche die Grundfesten alles socialen und individuellen Lebens
zu stärken oder neu zu beleben im Stande sind. Vereine mit Phra¬
sen thun es nicht, wo keine That erfolgt. "Wirken, den niedern
Schichten des Volkes sittlichen Halt zu geben, ihrer Existenz eine
solidere Basis und dadurch die Möglichkeit des gesicherten Erwerbes,
ja des Aufschwunges zu schaffen --" wohl! das ist gut und würde
helfen. Aber wirken, wodurch? Auf welche Weise. Kann der Erfolg
dem rasenden Anschwellen der Noth begegnen ? Wird die Sündfluth
nicht da sein, ehe die Dämme gebaut sind, welche sie abhalten sollen?
-- Oder will man sich etwa mit einer Arche für Wenige zur Ret¬
tung begnügen, um mit ihnen, wenn die Wasser sich verlaufen haben,
eine neue Ordnung der Dinge anzufangen?


8.

Wer das gewöhnliche Treiben der Städte oberflächlich betrachtet,
der wird nichts entdecken, was auf irgend eine Bedrängnis) oder sich
vorbereitende Katastrophe schließen läßt. Die Menschen gehen ihren
Geschäften oder Belustigungen nach, jede Stunde bringt die gewohn¬
ten Erscheinungen wieder, die Läden glänzen und locken, der Lurus
scheint täglich zu wachsen, großartige Bauten entstehen, die öffentlichen
Vergnügungen sind besuchter als je, es ist, als herrsche ein allgemei¬
ner Wohlstand, der im erfreulichsten Steigen begriffen sei. Gilt dies
von den größern Städten, so mühen sich die kleinern ab, nicht dahin¬
ten zu bleiben. Sie werfen sich, wenn sie in Eleganz und Geschmack
nicht mit jenen wetteifern können, wenn ihnen die Prachtgebäude und
manche, ja vielleicht alle, geistigen Genüsse fehlen, auf die Consistenz
des Materiellen. Nirgends putzt man sich mehr, nirgends wird mal>


nicht zum Vertrauten gemacht haben. Diese Angelegenheit wird,
fürchte ich, wie Manches auf Erden, ohne genügende Lösung bleiben.
Sie müssen sich begnügen, mein ehrwürdiger Freund, den Ueberleben-
den Ihres unglücklichen Verwandten eine sorgenfreie Zukunft zu be¬
reiten. Aber betrachten wir diesen Fall nicht alleinstehend. Er ist nur
ein herausgeschlagenes Glied einer furchtbaren Kette, die sich immer
weiter ausdehnt an der Krankheit unserer Zeit, damit meine ich: die
Noth der Hütten."

Das Thema war null ein allgemeines, aber so wichtig geworden,
daß die Männer — auch der Graf war zugegen — sich ganz dabei
aufregten. Combinationen aller Art wurden aufgestellt, aber sie grif¬
fen dem Uebel nicht an die Wurzel — das können nur höhere Ge¬
walten, welche die Grundfesten alles socialen und individuellen Lebens
zu stärken oder neu zu beleben im Stande sind. Vereine mit Phra¬
sen thun es nicht, wo keine That erfolgt. „Wirken, den niedern
Schichten des Volkes sittlichen Halt zu geben, ihrer Existenz eine
solidere Basis und dadurch die Möglichkeit des gesicherten Erwerbes,
ja des Aufschwunges zu schaffen —" wohl! das ist gut und würde
helfen. Aber wirken, wodurch? Auf welche Weise. Kann der Erfolg
dem rasenden Anschwellen der Noth begegnen ? Wird die Sündfluth
nicht da sein, ehe die Dämme gebaut sind, welche sie abhalten sollen?
— Oder will man sich etwa mit einer Arche für Wenige zur Ret¬
tung begnügen, um mit ihnen, wenn die Wasser sich verlaufen haben,
eine neue Ordnung der Dinge anzufangen?


8.

Wer das gewöhnliche Treiben der Städte oberflächlich betrachtet,
der wird nichts entdecken, was auf irgend eine Bedrängnis) oder sich
vorbereitende Katastrophe schließen läßt. Die Menschen gehen ihren
Geschäften oder Belustigungen nach, jede Stunde bringt die gewohn¬
ten Erscheinungen wieder, die Läden glänzen und locken, der Lurus
scheint täglich zu wachsen, großartige Bauten entstehen, die öffentlichen
Vergnügungen sind besuchter als je, es ist, als herrsche ein allgemei¬
ner Wohlstand, der im erfreulichsten Steigen begriffen sei. Gilt dies
von den größern Städten, so mühen sich die kleinern ab, nicht dahin¬
ten zu bleiben. Sie werfen sich, wenn sie in Eleganz und Geschmack
nicht mit jenen wetteifern können, wenn ihnen die Prachtgebäude und
manche, ja vielleicht alle, geistigen Genüsse fehlen, auf die Consistenz
des Materiellen. Nirgends putzt man sich mehr, nirgends wird mal>


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[0217] nicht zum Vertrauten gemacht haben. Diese Angelegenheit wird, fürchte ich, wie Manches auf Erden, ohne genügende Lösung bleiben. Sie müssen sich begnügen, mein ehrwürdiger Freund, den Ueberleben- den Ihres unglücklichen Verwandten eine sorgenfreie Zukunft zu be¬ reiten. Aber betrachten wir diesen Fall nicht alleinstehend. Er ist nur ein herausgeschlagenes Glied einer furchtbaren Kette, die sich immer weiter ausdehnt an der Krankheit unserer Zeit, damit meine ich: die Noth der Hütten." Das Thema war null ein allgemeines, aber so wichtig geworden, daß die Männer — auch der Graf war zugegen — sich ganz dabei aufregten. Combinationen aller Art wurden aufgestellt, aber sie grif¬ fen dem Uebel nicht an die Wurzel — das können nur höhere Ge¬ walten, welche die Grundfesten alles socialen und individuellen Lebens zu stärken oder neu zu beleben im Stande sind. Vereine mit Phra¬ sen thun es nicht, wo keine That erfolgt. „Wirken, den niedern Schichten des Volkes sittlichen Halt zu geben, ihrer Existenz eine solidere Basis und dadurch die Möglichkeit des gesicherten Erwerbes, ja des Aufschwunges zu schaffen —" wohl! das ist gut und würde helfen. Aber wirken, wodurch? Auf welche Weise. Kann der Erfolg dem rasenden Anschwellen der Noth begegnen ? Wird die Sündfluth nicht da sein, ehe die Dämme gebaut sind, welche sie abhalten sollen? — Oder will man sich etwa mit einer Arche für Wenige zur Ret¬ tung begnügen, um mit ihnen, wenn die Wasser sich verlaufen haben, eine neue Ordnung der Dinge anzufangen? 8. Wer das gewöhnliche Treiben der Städte oberflächlich betrachtet, der wird nichts entdecken, was auf irgend eine Bedrängnis) oder sich vorbereitende Katastrophe schließen läßt. Die Menschen gehen ihren Geschäften oder Belustigungen nach, jede Stunde bringt die gewohn¬ ten Erscheinungen wieder, die Läden glänzen und locken, der Lurus scheint täglich zu wachsen, großartige Bauten entstehen, die öffentlichen Vergnügungen sind besuchter als je, es ist, als herrsche ein allgemei¬ ner Wohlstand, der im erfreulichsten Steigen begriffen sei. Gilt dies von den größern Städten, so mühen sich die kleinern ab, nicht dahin¬ ten zu bleiben. Sie werfen sich, wenn sie in Eleganz und Geschmack nicht mit jenen wetteifern können, wenn ihnen die Prachtgebäude und manche, ja vielleicht alle, geistigen Genüsse fehlen, auf die Consistenz des Materiellen. Nirgends putzt man sich mehr, nirgends wird mal>

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/217>, abgerufen am 24.11.2024.