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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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"Nein, nein," antwortete die Alte leise. "Den können sie nimmermehr
kriegen!" -- "Wo ist er denn?" schrie die junge Frau.

, Die Alte schwieg, aber ihr unterdrücktes Schluchzen ließ sich
hören.

"Großmutter, um Jesu willen!" rief die Geängstigte. "Was ist
denn mit ihm?" -- "Mein Kind, er hat's überstanden," sagte die
Alte.

Laut auf schrie die Frau und faßte den Arm der Großmutter,
daß diese vor Schmerz zuckte.

"Sei still, Kind," sagte sie mit dem immer gleichen, feierlich lei¬
sen Tone. "Ihm ist wohl, wir wollen ihm die Ruhe gönnen. Ein¬
mal müssen wir Alle sterben, und das Hundeleben, das er führte,
war keine Freude für ihn. Aber Denen, die ihn so wett gebracht ha¬
ben, denen wollen wir's doch noch versalzen" -- und wie die Ge¬
fühle der Rache in ihrer Seele die Ueberhand gewannen, klärte sich
auch die Stimme der alten Frau, bis sie ihre ganze schneidende Schärfe
wieder hatte. "Versalzen wollen wir ihnen die Brühe und dem Se¬
ligen noch im Grabe eine Freude bereiten, denn selig wird er doch,
der Pastor mag's glauben oder nicht! Wer könnte noch selig wer¬
den, als mein armer Martin, wenn's ihn auch mit Haaren dazu ge¬
rissen hat. Er war frömmer, als das scheinheilige Pack, das bei Bra¬
ten und Wein nichts Böses zu thun braucht -- die nennen sich fromm,
weil sie die Augen verdrehen und in jeden Klingelbeutel kleckern, aber
wir wollen ihnen einmal einen Spaß einrühren -- warte nur, Liese!"

Während dieser ganzen heftigen Rede hatte die junge Frau in,
ihrer Trostlosigkeit geweint und geschrieen, ohne auf ihre Zwillinge zu
achten, die, aus dem Schlafe aufgeschreckt, laut wurden. Die Gro߬
mutter fing an, sie zu wiegen und gebot endlich der jammernden Wittwe
ihres Enkels Ruhe.

"Wozu hilft das?" sagte sie hart. "Dadurch wird der arme
Martin nicht wieder lebendig, dadurch thut dem alten Hunde, der ihn
so weit gebracht hat, kein Haar weh -- aber ich will ihn eben so
weit bringen, und wenn er° nicht mein Zeugniß über Seite gekriegt,
so hätte er sich aus Furcht vor Schande eben so den Strick um den
Hals legen müssen, wie Dein Mann -- " -- Ein neuer gellender Schrei
der jungen Frau unterbrach die Alte: "Großmutter! er hat sich -- ?"
-- "Ja, mein' Tochter, eS ist nun einmal nicht anders," sagte die
Großmutter und stieß einen lauten Seufzer aus. "Ich hatte ihn schon
vor Augen, aber er lief und sah mich gar nicht, der arme Junge,


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„Nein, nein," antwortete die Alte leise. „Den können sie nimmermehr
kriegen!" — „Wo ist er denn?" schrie die junge Frau.

, Die Alte schwieg, aber ihr unterdrücktes Schluchzen ließ sich
hören.

„Großmutter, um Jesu willen!" rief die Geängstigte. „Was ist
denn mit ihm?" — „Mein Kind, er hat's überstanden," sagte die
Alte.

Laut auf schrie die Frau und faßte den Arm der Großmutter,
daß diese vor Schmerz zuckte.

„Sei still, Kind," sagte sie mit dem immer gleichen, feierlich lei¬
sen Tone. „Ihm ist wohl, wir wollen ihm die Ruhe gönnen. Ein¬
mal müssen wir Alle sterben, und das Hundeleben, das er führte,
war keine Freude für ihn. Aber Denen, die ihn so wett gebracht ha¬
ben, denen wollen wir's doch noch versalzen" — und wie die Ge¬
fühle der Rache in ihrer Seele die Ueberhand gewannen, klärte sich
auch die Stimme der alten Frau, bis sie ihre ganze schneidende Schärfe
wieder hatte. „Versalzen wollen wir ihnen die Brühe und dem Se¬
ligen noch im Grabe eine Freude bereiten, denn selig wird er doch,
der Pastor mag's glauben oder nicht! Wer könnte noch selig wer¬
den, als mein armer Martin, wenn's ihn auch mit Haaren dazu ge¬
rissen hat. Er war frömmer, als das scheinheilige Pack, das bei Bra¬
ten und Wein nichts Böses zu thun braucht — die nennen sich fromm,
weil sie die Augen verdrehen und in jeden Klingelbeutel kleckern, aber
wir wollen ihnen einmal einen Spaß einrühren — warte nur, Liese!"

Während dieser ganzen heftigen Rede hatte die junge Frau in,
ihrer Trostlosigkeit geweint und geschrieen, ohne auf ihre Zwillinge zu
achten, die, aus dem Schlafe aufgeschreckt, laut wurden. Die Gro߬
mutter fing an, sie zu wiegen und gebot endlich der jammernden Wittwe
ihres Enkels Ruhe.

„Wozu hilft das?" sagte sie hart. „Dadurch wird der arme
Martin nicht wieder lebendig, dadurch thut dem alten Hunde, der ihn
so weit gebracht hat, kein Haar weh — aber ich will ihn eben so
weit bringen, und wenn er° nicht mein Zeugniß über Seite gekriegt,
so hätte er sich aus Furcht vor Schande eben so den Strick um den
Hals legen müssen, wie Dein Mann — " — Ein neuer gellender Schrei
der jungen Frau unterbrach die Alte: „Großmutter! er hat sich — ?"
— „Ja, mein' Tochter, eS ist nun einmal nicht anders," sagte die
Großmutter und stieß einen lauten Seufzer aus. „Ich hatte ihn schon
vor Augen, aber er lief und sah mich gar nicht, der arme Junge,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/215>, abgerufen am 24.11.2024.