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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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Weinenden, sie stieß einen lauten Schrei aus. "Wo ist er? Wo ist
er?" rief sie, die Arme emporstreckend. -- "In Gottes Hand, gute
Frau!" sagte der Alte. "Möge er ihn auf rechte Wege führen!" --

"O wie ist das gekommen? Von wo denn? Herr Jesus, Je¬
sus! Sie werden ihn wieder fangen!" so rief und schluchzte die Frau
in heftiger Aufregung, dann warf sie sich über die Wiege ihrer Kin¬
der und weinte laut.

Der Greis ließ sie eine Zeitlang gewähren, dann tröstete er sie
mit dem Vertrauen auf Gott und als sie seinen Worten wieder zu¬
gänglicher geworden war, sagte er: "Ich komme über die See, um in
meinem Vaterlande zu sterben. Da wollte ich denn die Nachkommen
meines Bruders aufsuchen. Mit dem hatte ich mich früher erzürnt,
nachher, wie mich Gott mit Reichthum gesegnet, wünschte ich mich mit
ihm zu versöhnen, aber man schrieb mir, er sei todt und sein Sohn,
das war Euer Schwiegervater, lebe in großer Dürftigkeit. -- "Das
weiß ich Alles nicht," sagte die Frau. -- "Damals that ich, was ich
konnte," fuhr der Greis fort, "aber wie ich nnn gehört, ist mein ar¬
mer Neffe schändlich um das Capital, das ich ihm zugehen ließ, be¬
trogen worden und dann gestorben, ohne seinem Sohne ein besseres
Loos zu hinterlassen -- das ist nun Euer Mann!" -- "Ach mein,
barmherziger Gott!" sagte die Frau niedergeschlagen. "Wo mag der
jetzt sein!" .-- "Mich trieb es endlich selbst her," nahm der Greis
wieder das Wort. "Ich glaubte bei den Meinigen, die ich wohlha¬
bend finden mußte, meine Tage zu beschließen, aber denkt Euch mei¬
nen Schrecken, als ich endlich hörte, wie es stand. Denen, die Euch
darum betrogen haben, soll es keinen Segen bringen!"

Die ZuHörerin gerieth über das Trugbild eines Glückes, in
welchem sie hätte leben können, ganz außer sich und ergoß sich in ei¬
nen Strom von Verwünschungen über die Menschen, die ihren Mann
in's Unglück gestürzt hatten, so daß er auf das Zuchthaus gekommen
war.

"Denn er war ein Mann, wie ein Lamm!" schrie sie. Er hätte
keinem Kinde etwas zu Leide , thun können, nicht einmal, wenn er et¬
was im Kopfe hatte, dann wurde er grade still und manchmal weinte
er. Ich habe in meinem Leben keinen Schlag von ihm gekriegt und
eS soll Einer auftreten!" -- "Wollt Ihr mir einmal ruhig erzählen,
wie Alles gekommen ist?" fragte der Greis.

Sie nickte mit dem Kopfe, nahm einen der Zwillinge, welche sehr
ruhig geworden waren, aus der Wiege, legte ihn, schamhaft abge-


Weinenden, sie stieß einen lauten Schrei aus. „Wo ist er? Wo ist
er?" rief sie, die Arme emporstreckend. — „In Gottes Hand, gute
Frau!" sagte der Alte. „Möge er ihn auf rechte Wege führen!" —

„O wie ist das gekommen? Von wo denn? Herr Jesus, Je¬
sus! Sie werden ihn wieder fangen!" so rief und schluchzte die Frau
in heftiger Aufregung, dann warf sie sich über die Wiege ihrer Kin¬
der und weinte laut.

Der Greis ließ sie eine Zeitlang gewähren, dann tröstete er sie
mit dem Vertrauen auf Gott und als sie seinen Worten wieder zu¬
gänglicher geworden war, sagte er: „Ich komme über die See, um in
meinem Vaterlande zu sterben. Da wollte ich denn die Nachkommen
meines Bruders aufsuchen. Mit dem hatte ich mich früher erzürnt,
nachher, wie mich Gott mit Reichthum gesegnet, wünschte ich mich mit
ihm zu versöhnen, aber man schrieb mir, er sei todt und sein Sohn,
das war Euer Schwiegervater, lebe in großer Dürftigkeit. — „Das
weiß ich Alles nicht," sagte die Frau. — „Damals that ich, was ich
konnte," fuhr der Greis fort, „aber wie ich nnn gehört, ist mein ar¬
mer Neffe schändlich um das Capital, das ich ihm zugehen ließ, be¬
trogen worden und dann gestorben, ohne seinem Sohne ein besseres
Loos zu hinterlassen — das ist nun Euer Mann!" — „Ach mein,
barmherziger Gott!" sagte die Frau niedergeschlagen. „Wo mag der
jetzt sein!" .— „Mich trieb es endlich selbst her," nahm der Greis
wieder das Wort. „Ich glaubte bei den Meinigen, die ich wohlha¬
bend finden mußte, meine Tage zu beschließen, aber denkt Euch mei¬
nen Schrecken, als ich endlich hörte, wie es stand. Denen, die Euch
darum betrogen haben, soll es keinen Segen bringen!"

Die ZuHörerin gerieth über das Trugbild eines Glückes, in
welchem sie hätte leben können, ganz außer sich und ergoß sich in ei¬
nen Strom von Verwünschungen über die Menschen, die ihren Mann
in's Unglück gestürzt hatten, so daß er auf das Zuchthaus gekommen
war.

„Denn er war ein Mann, wie ein Lamm!" schrie sie. Er hätte
keinem Kinde etwas zu Leide , thun können, nicht einmal, wenn er et¬
was im Kopfe hatte, dann wurde er grade still und manchmal weinte
er. Ich habe in meinem Leben keinen Schlag von ihm gekriegt und
eS soll Einer auftreten!" — „Wollt Ihr mir einmal ruhig erzählen,
wie Alles gekommen ist?" fragte der Greis.

Sie nickte mit dem Kopfe, nahm einen der Zwillinge, welche sehr
ruhig geworden waren, aus der Wiege, legte ihn, schamhaft abge-


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[0210] Weinenden, sie stieß einen lauten Schrei aus. „Wo ist er? Wo ist er?" rief sie, die Arme emporstreckend. — „In Gottes Hand, gute Frau!" sagte der Alte. „Möge er ihn auf rechte Wege führen!" — „O wie ist das gekommen? Von wo denn? Herr Jesus, Je¬ sus! Sie werden ihn wieder fangen!" so rief und schluchzte die Frau in heftiger Aufregung, dann warf sie sich über die Wiege ihrer Kin¬ der und weinte laut. Der Greis ließ sie eine Zeitlang gewähren, dann tröstete er sie mit dem Vertrauen auf Gott und als sie seinen Worten wieder zu¬ gänglicher geworden war, sagte er: „Ich komme über die See, um in meinem Vaterlande zu sterben. Da wollte ich denn die Nachkommen meines Bruders aufsuchen. Mit dem hatte ich mich früher erzürnt, nachher, wie mich Gott mit Reichthum gesegnet, wünschte ich mich mit ihm zu versöhnen, aber man schrieb mir, er sei todt und sein Sohn, das war Euer Schwiegervater, lebe in großer Dürftigkeit. — „Das weiß ich Alles nicht," sagte die Frau. — „Damals that ich, was ich konnte," fuhr der Greis fort, „aber wie ich nnn gehört, ist mein ar¬ mer Neffe schändlich um das Capital, das ich ihm zugehen ließ, be¬ trogen worden und dann gestorben, ohne seinem Sohne ein besseres Loos zu hinterlassen — das ist nun Euer Mann!" — „Ach mein, barmherziger Gott!" sagte die Frau niedergeschlagen. „Wo mag der jetzt sein!" .— „Mich trieb es endlich selbst her," nahm der Greis wieder das Wort. „Ich glaubte bei den Meinigen, die ich wohlha¬ bend finden mußte, meine Tage zu beschließen, aber denkt Euch mei¬ nen Schrecken, als ich endlich hörte, wie es stand. Denen, die Euch darum betrogen haben, soll es keinen Segen bringen!" Die ZuHörerin gerieth über das Trugbild eines Glückes, in welchem sie hätte leben können, ganz außer sich und ergoß sich in ei¬ nen Strom von Verwünschungen über die Menschen, die ihren Mann in's Unglück gestürzt hatten, so daß er auf das Zuchthaus gekommen war. „Denn er war ein Mann, wie ein Lamm!" schrie sie. Er hätte keinem Kinde etwas zu Leide , thun können, nicht einmal, wenn er et¬ was im Kopfe hatte, dann wurde er grade still und manchmal weinte er. Ich habe in meinem Leben keinen Schlag von ihm gekriegt und eS soll Einer auftreten!" — „Wollt Ihr mir einmal ruhig erzählen, wie Alles gekommen ist?" fragte der Greis. Sie nickte mit dem Kopfe, nahm einen der Zwillinge, welche sehr ruhig geworden waren, aus der Wiege, legte ihn, schamhaft abge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/210>, abgerufen am 24.11.2024.