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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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Kanzel und die Bäume des Waldes, an denen wir vorüber fuhren,
ebenso, viele gedrängte Zuhörer wären; er vergaß nun die Pferde,
die immer langsamer gingen, der Wagen schütterte nur leise und durch
die helle Nacht klangen seine Worte. Plötzlich mit ausgestreckter Hand
zeigte er nach der Gegend seines Dorfes hin und rief: So war einst
das ganze Land der Böhmen! Und mit diesen Worten ließ er sich
heftig auf seinen Sitz nieder, drückte den breiten Hut in die Stirne
und hieb mit großer Gewalt auf die Pferde los, daß wir wie im
Sturme dahinfuhren und nach einer Stunde in Prczibram waren.
Weder der Fuhrmann noch der Bauer sprachen fürder ein Wort. Das
war die einzige Begegnung, die ich mit Calvinisten jener Gegend jemals
hatte; sie war aber nicht geeignet, sobald vergessen zu werden. Doch war
ich wie gesagt nicht in dem Alter, in dem es mich hätte interessiren
können, über die Brüder unseres Fuhrmanns nähere Erkundigungen
einzuziehen. So viel erfuhr ich, daß sie es sind, die stets mit den
Katholiken zu disputiren anfangen und an ihnen gern ihren Spott
und ihren Witz üben, und daß sie darin sehr gewandt und oft scharf¬
sinnig sind; zugleich aber erzählte man mir auch, daß sie von den
Katholiken mit größter Toleranz und Brüderlichkeit behandelt werden,
obwohl sie von diesen als Verdammte und für ewig Verlorene ange¬
sehen werden. Vielleicht ist es eine gewisse Ahnung, eine dunkle Erin¬
nerung, die dem Böhmen im innersten Herzen sitzt.

Auf Ähnliche Weise machte ich die Entdeckung der andern Insel,
der Sprachinsel. Es ist das ein deutsches Dorf mitten im slavische¬
sten Böhmen und liegt ungefähr acht Meilen südlich von Prag und
ein und eine halbe Meile südwestlich von jenem calvinischen Dorfe auf
der erzbischöflichen Herrschaft Roczmital. Wieder war es ein Bauer
der Umgegend, der mir über diese Merkwürdigkeit die erste Auskunft
gab, als ich einst in früher Jugend nahebei vorüberfuhr. Das Dorf
fiel mir auf; es hatte etwas Eigenthümliches, Sonderbares, Fremd¬
artiges, und ich fragte den Bauer um die Ursache. -- Das ist ein
dummes Dorf, sagte er, wohnen lauter Deutsche drin, die kein Wort
böhmisch sprechen. Kuriose Leute; sie bauen ihre Häuser anders, als
wir und legen große Steine auf die Dächer; sie spannen ihre Ochsen
anders ein, sie kleiden sich anders, kurz thun Alles anders, als wir
Böhmen. Ein dummes Volk.

Erst später sagte man mir, daß die Bewohner des "deutschen Dor¬
fes" vor langer, langer Zeit aus ihrer Heimath, die von Elementar¬
unglück heimgesucht ward, von einem Erzbischof hierher verpflanzt


Kanzel und die Bäume des Waldes, an denen wir vorüber fuhren,
ebenso, viele gedrängte Zuhörer wären; er vergaß nun die Pferde,
die immer langsamer gingen, der Wagen schütterte nur leise und durch
die helle Nacht klangen seine Worte. Plötzlich mit ausgestreckter Hand
zeigte er nach der Gegend seines Dorfes hin und rief: So war einst
das ganze Land der Böhmen! Und mit diesen Worten ließ er sich
heftig auf seinen Sitz nieder, drückte den breiten Hut in die Stirne
und hieb mit großer Gewalt auf die Pferde los, daß wir wie im
Sturme dahinfuhren und nach einer Stunde in Prczibram waren.
Weder der Fuhrmann noch der Bauer sprachen fürder ein Wort. Das
war die einzige Begegnung, die ich mit Calvinisten jener Gegend jemals
hatte; sie war aber nicht geeignet, sobald vergessen zu werden. Doch war
ich wie gesagt nicht in dem Alter, in dem es mich hätte interessiren
können, über die Brüder unseres Fuhrmanns nähere Erkundigungen
einzuziehen. So viel erfuhr ich, daß sie es sind, die stets mit den
Katholiken zu disputiren anfangen und an ihnen gern ihren Spott
und ihren Witz üben, und daß sie darin sehr gewandt und oft scharf¬
sinnig sind; zugleich aber erzählte man mir auch, daß sie von den
Katholiken mit größter Toleranz und Brüderlichkeit behandelt werden,
obwohl sie von diesen als Verdammte und für ewig Verlorene ange¬
sehen werden. Vielleicht ist es eine gewisse Ahnung, eine dunkle Erin¬
nerung, die dem Böhmen im innersten Herzen sitzt.

Auf Ähnliche Weise machte ich die Entdeckung der andern Insel,
der Sprachinsel. Es ist das ein deutsches Dorf mitten im slavische¬
sten Böhmen und liegt ungefähr acht Meilen südlich von Prag und
ein und eine halbe Meile südwestlich von jenem calvinischen Dorfe auf
der erzbischöflichen Herrschaft Roczmital. Wieder war es ein Bauer
der Umgegend, der mir über diese Merkwürdigkeit die erste Auskunft
gab, als ich einst in früher Jugend nahebei vorüberfuhr. Das Dorf
fiel mir auf; es hatte etwas Eigenthümliches, Sonderbares, Fremd¬
artiges, und ich fragte den Bauer um die Ursache. — Das ist ein
dummes Dorf, sagte er, wohnen lauter Deutsche drin, die kein Wort
böhmisch sprechen. Kuriose Leute; sie bauen ihre Häuser anders, als
wir und legen große Steine auf die Dächer; sie spannen ihre Ochsen
anders ein, sie kleiden sich anders, kurz thun Alles anders, als wir
Böhmen. Ein dummes Volk.

Erst später sagte man mir, daß die Bewohner des „deutschen Dor¬
fes" vor langer, langer Zeit aus ihrer Heimath, die von Elementar¬
unglück heimgesucht ward, von einem Erzbischof hierher verpflanzt


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[0177] Kanzel und die Bäume des Waldes, an denen wir vorüber fuhren, ebenso, viele gedrängte Zuhörer wären; er vergaß nun die Pferde, die immer langsamer gingen, der Wagen schütterte nur leise und durch die helle Nacht klangen seine Worte. Plötzlich mit ausgestreckter Hand zeigte er nach der Gegend seines Dorfes hin und rief: So war einst das ganze Land der Böhmen! Und mit diesen Worten ließ er sich heftig auf seinen Sitz nieder, drückte den breiten Hut in die Stirne und hieb mit großer Gewalt auf die Pferde los, daß wir wie im Sturme dahinfuhren und nach einer Stunde in Prczibram waren. Weder der Fuhrmann noch der Bauer sprachen fürder ein Wort. Das war die einzige Begegnung, die ich mit Calvinisten jener Gegend jemals hatte; sie war aber nicht geeignet, sobald vergessen zu werden. Doch war ich wie gesagt nicht in dem Alter, in dem es mich hätte interessiren können, über die Brüder unseres Fuhrmanns nähere Erkundigungen einzuziehen. So viel erfuhr ich, daß sie es sind, die stets mit den Katholiken zu disputiren anfangen und an ihnen gern ihren Spott und ihren Witz üben, und daß sie darin sehr gewandt und oft scharf¬ sinnig sind; zugleich aber erzählte man mir auch, daß sie von den Katholiken mit größter Toleranz und Brüderlichkeit behandelt werden, obwohl sie von diesen als Verdammte und für ewig Verlorene ange¬ sehen werden. Vielleicht ist es eine gewisse Ahnung, eine dunkle Erin¬ nerung, die dem Böhmen im innersten Herzen sitzt. Auf Ähnliche Weise machte ich die Entdeckung der andern Insel, der Sprachinsel. Es ist das ein deutsches Dorf mitten im slavische¬ sten Böhmen und liegt ungefähr acht Meilen südlich von Prag und ein und eine halbe Meile südwestlich von jenem calvinischen Dorfe auf der erzbischöflichen Herrschaft Roczmital. Wieder war es ein Bauer der Umgegend, der mir über diese Merkwürdigkeit die erste Auskunft gab, als ich einst in früher Jugend nahebei vorüberfuhr. Das Dorf fiel mir auf; es hatte etwas Eigenthümliches, Sonderbares, Fremd¬ artiges, und ich fragte den Bauer um die Ursache. — Das ist ein dummes Dorf, sagte er, wohnen lauter Deutsche drin, die kein Wort böhmisch sprechen. Kuriose Leute; sie bauen ihre Häuser anders, als wir und legen große Steine auf die Dächer; sie spannen ihre Ochsen anders ein, sie kleiden sich anders, kurz thun Alles anders, als wir Böhmen. Ein dummes Volk. Erst später sagte man mir, daß die Bewohner des „deutschen Dor¬ fes" vor langer, langer Zeit aus ihrer Heimath, die von Elementar¬ unglück heimgesucht ward, von einem Erzbischof hierher verpflanzt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/177>, abgerufen am 28.11.2024.