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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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Nur der Fremde hatte bemerkt, daß ein Mensch im Gebüsch gele¬
gen und bei Annäherung des Wagens die Flucht ergriffen hatte, doch
äußerte er sich nicht darüber. Das Gespräch verstummte.

"Was meinen Sie, Herr Masser," begann der Geistliche nach einer
Weile wieder, "was meinen Sie zu der Tollheit unserer Zeit?" --
Auf der ganzen Reise war noch kein Wort über die ernsten Bewegun¬
gen der Gegenwart gesprochen, erst kurz vor dem Thore des Zieles kam
der Pastor darauf -- ein ironisches Lächeln, welches durch die Antwort
Masser'ö nur verstärkt wurde, dämmerte auf dem Gesichte des Fremden.
"Tollheit, da haben Sie Recht!" bestätigte der Fabrikant. "Was
wollen die Menschen denn? Unsere Finanzen sind im besten Stande,
wir haben nach Verhältniß nicht mehr Abgaben, als andere Staaten,
der Handel florirt -- was wollen wir mehr?" -- "Ich sprach eigent¬
lich von den kirchlichen Unruhen," bemerkte der Pfarrer. -- "Die ge¬
hen mich nichts an," versetzte der Fabrikherr. "Sie sind wohl jalour,
Herr Pastor? Möchten wohl auch gern berumreisen, überall fötirt
werden, Diner mit Champagner, Vivat und so weiter? Nicht übel!"
-- "Um den Preis nicht!" sagte der Geistliche, indem er streitfertig
aufblickte und mit der Hand gleichsam die Versuchung von sich schob.
"Aber da sind wir j" schon. Ihre Schornsteine dampfen prächtig da
drüben."

Die Straße war an das Ufer eines großen Gewässers gelangt,
jenseit desselben sah man die weitläufigen Gebäude einer Fabrik, sie
gehörten Herrn Masser, welcher mit zufriedener Miene zu ihnen hin¬
über blickte. Bald erreichte der Postwagen auch einen Damm, welcher
seinen Pferden festen Grund unter die Hufe legte, die bisher nur mit
wankendem Sande gekämpft, der Postillon stieß in's Horn, eine Brücke,
ein zerfallendes Thor, krumme und enge Straßen mit niedrigen Häu¬
sern, endlich Halt.

"Gott sei Dank!" sagte der Pfarrer. "Amalie, vergiß nichts
beim Aussteigen." -- "Sie reisen noch weiter?" fragte diese ihren
Nachbar, mit welchem sie einen freundlichen Abschiedsgruß wechselte.
-- "Nicht allzuweit," erwiederte dieser.

Für den reichen Fabrikherrn mühten sich diensteifrige Hände, den
geistlichen Herrn nahm der Kirchendiener in Empfang und berichtete
ihm in der Eile, was während seiner Abwesenheit in loco vor¬
gefallen, Amalie fand während dessen ein kleines, in Papier geschla¬
genes und versiegeltes Päckchen auf dem Boden des Wagens und


Nur der Fremde hatte bemerkt, daß ein Mensch im Gebüsch gele¬
gen und bei Annäherung des Wagens die Flucht ergriffen hatte, doch
äußerte er sich nicht darüber. Das Gespräch verstummte.

„Was meinen Sie, Herr Masser," begann der Geistliche nach einer
Weile wieder, „was meinen Sie zu der Tollheit unserer Zeit?" —
Auf der ganzen Reise war noch kein Wort über die ernsten Bewegun¬
gen der Gegenwart gesprochen, erst kurz vor dem Thore des Zieles kam
der Pastor darauf — ein ironisches Lächeln, welches durch die Antwort
Masser'ö nur verstärkt wurde, dämmerte auf dem Gesichte des Fremden.
„Tollheit, da haben Sie Recht!" bestätigte der Fabrikant. „Was
wollen die Menschen denn? Unsere Finanzen sind im besten Stande,
wir haben nach Verhältniß nicht mehr Abgaben, als andere Staaten,
der Handel florirt — was wollen wir mehr?" — „Ich sprach eigent¬
lich von den kirchlichen Unruhen," bemerkte der Pfarrer. — „Die ge¬
hen mich nichts an," versetzte der Fabrikherr. „Sie sind wohl jalour,
Herr Pastor? Möchten wohl auch gern berumreisen, überall fötirt
werden, Diner mit Champagner, Vivat und so weiter? Nicht übel!"
— „Um den Preis nicht!" sagte der Geistliche, indem er streitfertig
aufblickte und mit der Hand gleichsam die Versuchung von sich schob.
„Aber da sind wir j« schon. Ihre Schornsteine dampfen prächtig da
drüben."

Die Straße war an das Ufer eines großen Gewässers gelangt,
jenseit desselben sah man die weitläufigen Gebäude einer Fabrik, sie
gehörten Herrn Masser, welcher mit zufriedener Miene zu ihnen hin¬
über blickte. Bald erreichte der Postwagen auch einen Damm, welcher
seinen Pferden festen Grund unter die Hufe legte, die bisher nur mit
wankendem Sande gekämpft, der Postillon stieß in's Horn, eine Brücke,
ein zerfallendes Thor, krumme und enge Straßen mit niedrigen Häu¬
sern, endlich Halt.

„Gott sei Dank!" sagte der Pfarrer. „Amalie, vergiß nichts
beim Aussteigen." — „Sie reisen noch weiter?" fragte diese ihren
Nachbar, mit welchem sie einen freundlichen Abschiedsgruß wechselte.
— „Nicht allzuweit," erwiederte dieser.

Für den reichen Fabrikherrn mühten sich diensteifrige Hände, den
geistlichen Herrn nahm der Kirchendiener in Empfang und berichtete
ihm in der Eile, was während seiner Abwesenheit in loco vor¬
gefallen, Amalie fand während dessen ein kleines, in Papier geschla¬
genes und versiegeltes Päckchen auf dem Boden des Wagens und


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[0144] Nur der Fremde hatte bemerkt, daß ein Mensch im Gebüsch gele¬ gen und bei Annäherung des Wagens die Flucht ergriffen hatte, doch äußerte er sich nicht darüber. Das Gespräch verstummte. „Was meinen Sie, Herr Masser," begann der Geistliche nach einer Weile wieder, „was meinen Sie zu der Tollheit unserer Zeit?" — Auf der ganzen Reise war noch kein Wort über die ernsten Bewegun¬ gen der Gegenwart gesprochen, erst kurz vor dem Thore des Zieles kam der Pastor darauf — ein ironisches Lächeln, welches durch die Antwort Masser'ö nur verstärkt wurde, dämmerte auf dem Gesichte des Fremden. „Tollheit, da haben Sie Recht!" bestätigte der Fabrikant. „Was wollen die Menschen denn? Unsere Finanzen sind im besten Stande, wir haben nach Verhältniß nicht mehr Abgaben, als andere Staaten, der Handel florirt — was wollen wir mehr?" — „Ich sprach eigent¬ lich von den kirchlichen Unruhen," bemerkte der Pfarrer. — „Die ge¬ hen mich nichts an," versetzte der Fabrikherr. „Sie sind wohl jalour, Herr Pastor? Möchten wohl auch gern berumreisen, überall fötirt werden, Diner mit Champagner, Vivat und so weiter? Nicht übel!" — „Um den Preis nicht!" sagte der Geistliche, indem er streitfertig aufblickte und mit der Hand gleichsam die Versuchung von sich schob. „Aber da sind wir j« schon. Ihre Schornsteine dampfen prächtig da drüben." Die Straße war an das Ufer eines großen Gewässers gelangt, jenseit desselben sah man die weitläufigen Gebäude einer Fabrik, sie gehörten Herrn Masser, welcher mit zufriedener Miene zu ihnen hin¬ über blickte. Bald erreichte der Postwagen auch einen Damm, welcher seinen Pferden festen Grund unter die Hufe legte, die bisher nur mit wankendem Sande gekämpft, der Postillon stieß in's Horn, eine Brücke, ein zerfallendes Thor, krumme und enge Straßen mit niedrigen Häu¬ sern, endlich Halt. „Gott sei Dank!" sagte der Pfarrer. „Amalie, vergiß nichts beim Aussteigen." — „Sie reisen noch weiter?" fragte diese ihren Nachbar, mit welchem sie einen freundlichen Abschiedsgruß wechselte. — „Nicht allzuweit," erwiederte dieser. Für den reichen Fabrikherrn mühten sich diensteifrige Hände, den geistlichen Herrn nahm der Kirchendiener in Empfang und berichtete ihm in der Eile, was während seiner Abwesenheit in loco vor¬ gefallen, Amalie fand während dessen ein kleines, in Papier geschla¬ genes und versiegeltes Päckchen auf dem Boden des Wagens und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/144>, abgerufen am 24.11.2024.