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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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"Sie werden wohl ruhig schlafen, wenn Sie's auch nicht wissen,
Herr Masser," sagte die Frau.

Der Fabrikherr sah sie scheel von der Seite an und rückte sich
zurecht, ohne ihr zu antworten. Desto aufmerksamer betrachtete sie der
Fremde eine Weile. Im Wagen trat wieder Stille ein, die Näder
knirschten im Sande, Bremsen flogen durch die offenen Fenster ein und
aus, man schien nicht von der Stelle zu kommen.

"Gemäßigter Fortschritt, eine Forderung der Zeit!" bemerkte der
Pfarrer und lächelte über seinen geistreichen Witz. In diesem Augen¬
blicke stieß die alte Frau einen lauten Schrei aus, öffnete aus dem
Fenster mit Kraft die Schloßfeder der Wagenthüre und sprang, ohne
sich zu besinnen, hinaus, des Postillons Zuruf nicht beachtend. Alle
Reisenden fuhren auf, der Wagen hielt.

"Wo will Sie denn hin?" schrie der Conducteur. "Ich warte
nicht auf Sie." -- "Fahrt in Gottes Namen!" rief die Frau, über
den Graben springend und winkte heftig mit ihrem langen Arme. Sie
verschwand im Gebüsch, worauf der Postknecht sein kopfhängerisches
Viergespann durch einen kunstgerechten Kreuzhieb wieder in Bewegung
setzte, während der Conducteur brummend den Wagenschlag schloß.

"Verrücktes Weib!" murmelte der Fabrikant. -- "Wir lassen aber
die Arme auf der Landstraße," sagte die Tochter des Pfarrers mit¬
leidig. -- "Des Menschen Wille ist sein Himmelreich, Amalie," ver¬
setzte der Vater. "Wer ist sie denn eigentlich, Herr Masser?" --
"O das ist ein Mordfrauenzimmer," antwortete der Fabrikherr. "Die
könnte einen ganzen Regierungsbezirk verdreht machen. Hat eine Zunge,
sage ich Ihnen, wie ein Mühlrad und fürchtet sich vor keinem Teufel.
Ich dachte schon, nur würden sie los sein, denn sie wollte mit ihrer
ganzen Freundschaft nach Amerika -- auf einmal hat sie der Henker
wieder da." -- "Aber wer ist sie denn eigentlich, Herr Masser," wie¬
derholte Amalie die Frage ihres Vaters. -- "Sie heißt Greschel, und
ist eine Wittwe aus -- ich glaube, aus Pommern in Preußen," ant¬
wortete der Fabrikherr. Ein aufmerksamer Beobachter -- und das
war der Fremde, dessen Blick auf Masser ruhte -- konnte nicht über¬
sehen, daß diesem eine nähere Erörterung nicht angenehm sei. --- "Sie
hat wohl in Ihrer andern Fabrik gearbeitet?" fragte die unabweis-
liche Pfarrerstochter. -- "Nein - sie nicht!" antwortete Masser.
"Aber dort wohnte sie." -- "Warum "eng sie nur heraufgesprungen
sein?" forschte Amalie. "War vielleicht draußen etwas?" - "Ich
sehe sehr schlecht," erwiederte Masser.


„Sie werden wohl ruhig schlafen, wenn Sie's auch nicht wissen,
Herr Masser," sagte die Frau.

Der Fabrikherr sah sie scheel von der Seite an und rückte sich
zurecht, ohne ihr zu antworten. Desto aufmerksamer betrachtete sie der
Fremde eine Weile. Im Wagen trat wieder Stille ein, die Näder
knirschten im Sande, Bremsen flogen durch die offenen Fenster ein und
aus, man schien nicht von der Stelle zu kommen.

„Gemäßigter Fortschritt, eine Forderung der Zeit!" bemerkte der
Pfarrer und lächelte über seinen geistreichen Witz. In diesem Augen¬
blicke stieß die alte Frau einen lauten Schrei aus, öffnete aus dem
Fenster mit Kraft die Schloßfeder der Wagenthüre und sprang, ohne
sich zu besinnen, hinaus, des Postillons Zuruf nicht beachtend. Alle
Reisenden fuhren auf, der Wagen hielt.

„Wo will Sie denn hin?" schrie der Conducteur. „Ich warte
nicht auf Sie." — „Fahrt in Gottes Namen!" rief die Frau, über
den Graben springend und winkte heftig mit ihrem langen Arme. Sie
verschwand im Gebüsch, worauf der Postknecht sein kopfhängerisches
Viergespann durch einen kunstgerechten Kreuzhieb wieder in Bewegung
setzte, während der Conducteur brummend den Wagenschlag schloß.

„Verrücktes Weib!" murmelte der Fabrikant. — „Wir lassen aber
die Arme auf der Landstraße," sagte die Tochter des Pfarrers mit¬
leidig. — „Des Menschen Wille ist sein Himmelreich, Amalie," ver¬
setzte der Vater. „Wer ist sie denn eigentlich, Herr Masser?" —
„O das ist ein Mordfrauenzimmer," antwortete der Fabrikherr. „Die
könnte einen ganzen Regierungsbezirk verdreht machen. Hat eine Zunge,
sage ich Ihnen, wie ein Mühlrad und fürchtet sich vor keinem Teufel.
Ich dachte schon, nur würden sie los sein, denn sie wollte mit ihrer
ganzen Freundschaft nach Amerika — auf einmal hat sie der Henker
wieder da." — „Aber wer ist sie denn eigentlich, Herr Masser," wie¬
derholte Amalie die Frage ihres Vaters. — „Sie heißt Greschel, und
ist eine Wittwe aus — ich glaube, aus Pommern in Preußen," ant¬
wortete der Fabrikherr. Ein aufmerksamer Beobachter — und das
war der Fremde, dessen Blick auf Masser ruhte — konnte nicht über¬
sehen, daß diesem eine nähere Erörterung nicht angenehm sei. —- „Sie
hat wohl in Ihrer andern Fabrik gearbeitet?" fragte die unabweis-
liche Pfarrerstochter. — „Nein - sie nicht!" antwortete Masser.
„Aber dort wohnte sie." — „Warum »eng sie nur heraufgesprungen
sein?" forschte Amalie. „War vielleicht draußen etwas?" - „Ich
sehe sehr schlecht," erwiederte Masser.


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[0143] „Sie werden wohl ruhig schlafen, wenn Sie's auch nicht wissen, Herr Masser," sagte die Frau. Der Fabrikherr sah sie scheel von der Seite an und rückte sich zurecht, ohne ihr zu antworten. Desto aufmerksamer betrachtete sie der Fremde eine Weile. Im Wagen trat wieder Stille ein, die Näder knirschten im Sande, Bremsen flogen durch die offenen Fenster ein und aus, man schien nicht von der Stelle zu kommen. „Gemäßigter Fortschritt, eine Forderung der Zeit!" bemerkte der Pfarrer und lächelte über seinen geistreichen Witz. In diesem Augen¬ blicke stieß die alte Frau einen lauten Schrei aus, öffnete aus dem Fenster mit Kraft die Schloßfeder der Wagenthüre und sprang, ohne sich zu besinnen, hinaus, des Postillons Zuruf nicht beachtend. Alle Reisenden fuhren auf, der Wagen hielt. „Wo will Sie denn hin?" schrie der Conducteur. „Ich warte nicht auf Sie." — „Fahrt in Gottes Namen!" rief die Frau, über den Graben springend und winkte heftig mit ihrem langen Arme. Sie verschwand im Gebüsch, worauf der Postknecht sein kopfhängerisches Viergespann durch einen kunstgerechten Kreuzhieb wieder in Bewegung setzte, während der Conducteur brummend den Wagenschlag schloß. „Verrücktes Weib!" murmelte der Fabrikant. — „Wir lassen aber die Arme auf der Landstraße," sagte die Tochter des Pfarrers mit¬ leidig. — „Des Menschen Wille ist sein Himmelreich, Amalie," ver¬ setzte der Vater. „Wer ist sie denn eigentlich, Herr Masser?" — „O das ist ein Mordfrauenzimmer," antwortete der Fabrikherr. „Die könnte einen ganzen Regierungsbezirk verdreht machen. Hat eine Zunge, sage ich Ihnen, wie ein Mühlrad und fürchtet sich vor keinem Teufel. Ich dachte schon, nur würden sie los sein, denn sie wollte mit ihrer ganzen Freundschaft nach Amerika — auf einmal hat sie der Henker wieder da." — „Aber wer ist sie denn eigentlich, Herr Masser," wie¬ derholte Amalie die Frage ihres Vaters. — „Sie heißt Greschel, und ist eine Wittwe aus — ich glaube, aus Pommern in Preußen," ant¬ wortete der Fabrikherr. Ein aufmerksamer Beobachter — und das war der Fremde, dessen Blick auf Masser ruhte — konnte nicht über¬ sehen, daß diesem eine nähere Erörterung nicht angenehm sei. —- „Sie hat wohl in Ihrer andern Fabrik gearbeitet?" fragte die unabweis- liche Pfarrerstochter. — „Nein - sie nicht!" antwortete Masser. „Aber dort wohnte sie." — „Warum »eng sie nur heraufgesprungen sein?" forschte Amalie. „War vielleicht draußen etwas?" - „Ich sehe sehr schlecht," erwiederte Masser.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/143>, abgerufen am 23.07.2024.