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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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hätte dann ebenso von uns gesagt: Deutschland sei im Grunde nie
ein Staat im modernen Begriffe gewesen, es sei blos ein Institut
des Mittelalters gewesen und war durch innere Zwiespalt längst auf¬
gelöst, ehe es noch getheilt wurde! Vor fünfzig Jahren hätte dies Alles
noch aus uns gepaßt und zum Theil vor vierzig, vor fünfunddreißig
noch! Aber der Himmel hat wohlwollend auf Deutschland herabgesehen;
im Momente seiner tiefsten Erniedrigung hat es seine höchste Kraft,
sein Nationalbewußtsein, sich selbst wieder gefunden. Dock eben des¬
halb ziemt es ihm, dem Glücklichen, seinen gefallenen Bruder mit
Theilnahme zu begegnen und ihm sein Unglück nicht doppelt fühlbar
zu machen.

Jn's Praktische übersetzt, was heißt das? --

Freilich nicht viel. Ob die Theilung Polens zu entschuldigen,
darüber zu streiten scheint jetzt nicht die Zeit. Jetzt, wo selbst auf¬
richtige Polenfreunde sich gestehen müssen, daß Oesterreich und Preußen
auf ihre polnischen Gebietstheile nicht verzichten können, nicht verzich¬
ten dürfen und nicht blos im Interesse ihrer Hausmacht, sondern im
Interesse deutscher Macht überhaupt! --

"Erkennen Sie dies an -- höre ich fragen -- wozu die ver¬
narbten Wunden von Neuem aufreißen, da man sie doch nicht heilen
kann? Wozu die Vergangenheit heraufbeschwören, da man an die
Gegenwart denken muß?" Aber gerade weil die Wunden noch
nicht vernarbt sind, muß man sie untersuchen, weil man nicht blos
an die Gegenwart, sondern auch an die Zukunft denken muß, ist es
nöthig über die Vergangenheit sich klar zu werden. Hier sind wir bei
dem zweiten Hauptpunkt, wo wir dem Herrn Verfasser des vorste¬
henden Aufsatzes entschieden widersprechen müssen:

"Der Pistolenschuß, welchen ein Jnsurgentenhauptling in Lissa-
Gura auf die sich widersetzenven Bauern that, brachte die Lawine
zum Sturze, welche in Galizien die letzten Reste des Polen¬
thums begrub!".... "Die letzten Reste des Polenthums hat¬
ten sich in der Emigration gesammelt"....

Der Herr Verfasser, der offenbar ein Mann der That und des
raschen Fühlens ist, laßt in seinem Eifer gegen eine Sache, die so viel
Blut gekostet, seine Worte dahinstürmen, ohne sie aus die Granwaage
zu legen. Wir aber, die Männer der Feder und des stillen Nach¬
denkens, dürfen die Sache nicht so "n dive abthun. Im Interesse
der Monarchen, denen Posen und Galizien zugefallen, im Interesse
der Regierungen, welchen die schwere Ausgabe ward, einen unglückli¬
chen Staatsstreich, den ihnen das vorige Jahrhundert vererbt, durch
Klugheit und Milde auszusöhnen, müssen wir sagen: der Himmel
behüte sie vor dem Irrglauben, daß die letzten Reste des "Polenthums"
begraben sind, daß es die letztenNeste des "Polenthums" sind, welche


hätte dann ebenso von uns gesagt: Deutschland sei im Grunde nie
ein Staat im modernen Begriffe gewesen, es sei blos ein Institut
des Mittelalters gewesen und war durch innere Zwiespalt längst auf¬
gelöst, ehe es noch getheilt wurde! Vor fünfzig Jahren hätte dies Alles
noch aus uns gepaßt und zum Theil vor vierzig, vor fünfunddreißig
noch! Aber der Himmel hat wohlwollend auf Deutschland herabgesehen;
im Momente seiner tiefsten Erniedrigung hat es seine höchste Kraft,
sein Nationalbewußtsein, sich selbst wieder gefunden. Dock eben des¬
halb ziemt es ihm, dem Glücklichen, seinen gefallenen Bruder mit
Theilnahme zu begegnen und ihm sein Unglück nicht doppelt fühlbar
zu machen.

Jn's Praktische übersetzt, was heißt das? —

Freilich nicht viel. Ob die Theilung Polens zu entschuldigen,
darüber zu streiten scheint jetzt nicht die Zeit. Jetzt, wo selbst auf¬
richtige Polenfreunde sich gestehen müssen, daß Oesterreich und Preußen
auf ihre polnischen Gebietstheile nicht verzichten können, nicht verzich¬
ten dürfen und nicht blos im Interesse ihrer Hausmacht, sondern im
Interesse deutscher Macht überhaupt! —

„Erkennen Sie dies an — höre ich fragen — wozu die ver¬
narbten Wunden von Neuem aufreißen, da man sie doch nicht heilen
kann? Wozu die Vergangenheit heraufbeschwören, da man an die
Gegenwart denken muß?" Aber gerade weil die Wunden noch
nicht vernarbt sind, muß man sie untersuchen, weil man nicht blos
an die Gegenwart, sondern auch an die Zukunft denken muß, ist es
nöthig über die Vergangenheit sich klar zu werden. Hier sind wir bei
dem zweiten Hauptpunkt, wo wir dem Herrn Verfasser des vorste¬
henden Aufsatzes entschieden widersprechen müssen:

„Der Pistolenschuß, welchen ein Jnsurgentenhauptling in Lissa-
Gura auf die sich widersetzenven Bauern that, brachte die Lawine
zum Sturze, welche in Galizien die letzten Reste des Polen¬
thums begrub!".... „Die letzten Reste des Polenthums hat¬
ten sich in der Emigration gesammelt"....

Der Herr Verfasser, der offenbar ein Mann der That und des
raschen Fühlens ist, laßt in seinem Eifer gegen eine Sache, die so viel
Blut gekostet, seine Worte dahinstürmen, ohne sie aus die Granwaage
zu legen. Wir aber, die Männer der Feder und des stillen Nach¬
denkens, dürfen die Sache nicht so «n dive abthun. Im Interesse
der Monarchen, denen Posen und Galizien zugefallen, im Interesse
der Regierungen, welchen die schwere Ausgabe ward, einen unglückli¬
chen Staatsstreich, den ihnen das vorige Jahrhundert vererbt, durch
Klugheit und Milde auszusöhnen, müssen wir sagen: der Himmel
behüte sie vor dem Irrglauben, daß die letzten Reste des „Polenthums"
begraben sind, daß es die letztenNeste des „Polenthums" sind, welche


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[0128] hätte dann ebenso von uns gesagt: Deutschland sei im Grunde nie ein Staat im modernen Begriffe gewesen, es sei blos ein Institut des Mittelalters gewesen und war durch innere Zwiespalt längst auf¬ gelöst, ehe es noch getheilt wurde! Vor fünfzig Jahren hätte dies Alles noch aus uns gepaßt und zum Theil vor vierzig, vor fünfunddreißig noch! Aber der Himmel hat wohlwollend auf Deutschland herabgesehen; im Momente seiner tiefsten Erniedrigung hat es seine höchste Kraft, sein Nationalbewußtsein, sich selbst wieder gefunden. Dock eben des¬ halb ziemt es ihm, dem Glücklichen, seinen gefallenen Bruder mit Theilnahme zu begegnen und ihm sein Unglück nicht doppelt fühlbar zu machen. Jn's Praktische übersetzt, was heißt das? — Freilich nicht viel. Ob die Theilung Polens zu entschuldigen, darüber zu streiten scheint jetzt nicht die Zeit. Jetzt, wo selbst auf¬ richtige Polenfreunde sich gestehen müssen, daß Oesterreich und Preußen auf ihre polnischen Gebietstheile nicht verzichten können, nicht verzich¬ ten dürfen und nicht blos im Interesse ihrer Hausmacht, sondern im Interesse deutscher Macht überhaupt! — „Erkennen Sie dies an — höre ich fragen — wozu die ver¬ narbten Wunden von Neuem aufreißen, da man sie doch nicht heilen kann? Wozu die Vergangenheit heraufbeschwören, da man an die Gegenwart denken muß?" Aber gerade weil die Wunden noch nicht vernarbt sind, muß man sie untersuchen, weil man nicht blos an die Gegenwart, sondern auch an die Zukunft denken muß, ist es nöthig über die Vergangenheit sich klar zu werden. Hier sind wir bei dem zweiten Hauptpunkt, wo wir dem Herrn Verfasser des vorste¬ henden Aufsatzes entschieden widersprechen müssen: „Der Pistolenschuß, welchen ein Jnsurgentenhauptling in Lissa- Gura auf die sich widersetzenven Bauern that, brachte die Lawine zum Sturze, welche in Galizien die letzten Reste des Polen¬ thums begrub!".... „Die letzten Reste des Polenthums hat¬ ten sich in der Emigration gesammelt".... Der Herr Verfasser, der offenbar ein Mann der That und des raschen Fühlens ist, laßt in seinem Eifer gegen eine Sache, die so viel Blut gekostet, seine Worte dahinstürmen, ohne sie aus die Granwaage zu legen. Wir aber, die Männer der Feder und des stillen Nach¬ denkens, dürfen die Sache nicht so «n dive abthun. Im Interesse der Monarchen, denen Posen und Galizien zugefallen, im Interesse der Regierungen, welchen die schwere Ausgabe ward, einen unglückli¬ chen Staatsstreich, den ihnen das vorige Jahrhundert vererbt, durch Klugheit und Milde auszusöhnen, müssen wir sagen: der Himmel behüte sie vor dem Irrglauben, daß die letzten Reste des „Polenthums" begraben sind, daß es die letztenNeste des „Polenthums" sind, welche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/128>, abgerufen am 24.11.2024.