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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band.

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lichen Leben geradezu auf den Leib geht. Das Wesen des Volks-
thümlichen, des individuell Durchgearbeiteten und neugewonnenen ist
aber, vom Einzelnen, Bestimmter, zum Allgemeinen aufzusteigen,
während wir es jetzt meist den Lesern überlassen müssen, die allge¬
meinen Recepte ausiihre besondern Zustände anzuwenden und solche
allein zu erkennen. Das erheischt aber eine Bildung, wie sie noch
auf keine Weise vorausgesetzt werden kann.

Neben der Verallgemeinerung der Gedanken ist man auch noch
oft dazu verdammt, die offensten Ansichten zu verlarven, den red¬
lichsten und aufrichtigsten eine abschreckende Teufelsmaske vorzubin¬
den, damit man unter dem Scheine der Bekämpfung wenigstens
eine-Erörterung anregen dürfe. Traurig, wer sich im Bewußtsein
der guten Absicht dazu verleiten läßt, sich selbst und die von ihm
ausgehende Wahrheit zu entweihen.

In der Schrift, zumal in der volksthümlichen, sollen wir uns
dem Sprechen nahe verhalten. Nun nistet sich aber das Bewußt¬
sein der Bevormundung in die Seele, oft noch bevor der Gedanke
geboren, und beim Schreiben selber schaut uns oft die Polizei über
die Schulter weg zu. Wir wollen keine Gelegenheit zum Streichen
geben, weil die Streichlust weiter hinein fährt und Stellen ver¬
nichtet, die ohne ihren sträflich angesehenen Nachbar frei ausgegan¬
gen wären. Wir lernen im besten Falle die Kriegskunst, aber nicht
die im offenen Felde, sondern die Kriegskunst der Schmuggler, mit
ihren Schleichwegen und Kniffen. Wir können kaum mehr ermes¬
sen, welche Gedanken und welche Sprache wir gewonnen hätten,
ohne daß das Bewußtsein der Bevormundung vor und in uns ge¬
setzt wäre. Es war nicht unnöthig, dies hier auszusprechen, um
manchen vertrauensvollen Humanitätöfreunden (ich sage absichtlich
nicht Volksfreunden, weil solches einen ungehörigen Hochmuth vor¬
aussetzt) darzuthun, daß wir die volksthümliche Schrift und Sprache
erst in und mit der Freiheit gewinnen werden.

So lange die Humanität auf abstraktem Boden in Erörterung
der Principien stand, fand sie hochgestellte Gönner und Förderer;
jetzt, da sie hinaustritt in's Leben und nicht umhin kann, manches
lieb Gewordene und hoch Gehaltene zu verletzen oder anzugreifen,
jetzt muß sie sich Schritt für Schritt durch Hindernisse hindurch¬
schlagen. Selbstmörderisch wäre es aber doch, in eitler Lässigkeit


Grenzboten, 184". II. 12

lichen Leben geradezu auf den Leib geht. Das Wesen des Volks-
thümlichen, des individuell Durchgearbeiteten und neugewonnenen ist
aber, vom Einzelnen, Bestimmter, zum Allgemeinen aufzusteigen,
während wir es jetzt meist den Lesern überlassen müssen, die allge¬
meinen Recepte ausiihre besondern Zustände anzuwenden und solche
allein zu erkennen. Das erheischt aber eine Bildung, wie sie noch
auf keine Weise vorausgesetzt werden kann.

Neben der Verallgemeinerung der Gedanken ist man auch noch
oft dazu verdammt, die offensten Ansichten zu verlarven, den red¬
lichsten und aufrichtigsten eine abschreckende Teufelsmaske vorzubin¬
den, damit man unter dem Scheine der Bekämpfung wenigstens
eine-Erörterung anregen dürfe. Traurig, wer sich im Bewußtsein
der guten Absicht dazu verleiten läßt, sich selbst und die von ihm
ausgehende Wahrheit zu entweihen.

In der Schrift, zumal in der volksthümlichen, sollen wir uns
dem Sprechen nahe verhalten. Nun nistet sich aber das Bewußt¬
sein der Bevormundung in die Seele, oft noch bevor der Gedanke
geboren, und beim Schreiben selber schaut uns oft die Polizei über
die Schulter weg zu. Wir wollen keine Gelegenheit zum Streichen
geben, weil die Streichlust weiter hinein fährt und Stellen ver¬
nichtet, die ohne ihren sträflich angesehenen Nachbar frei ausgegan¬
gen wären. Wir lernen im besten Falle die Kriegskunst, aber nicht
die im offenen Felde, sondern die Kriegskunst der Schmuggler, mit
ihren Schleichwegen und Kniffen. Wir können kaum mehr ermes¬
sen, welche Gedanken und welche Sprache wir gewonnen hätten,
ohne daß das Bewußtsein der Bevormundung vor und in uns ge¬
setzt wäre. Es war nicht unnöthig, dies hier auszusprechen, um
manchen vertrauensvollen Humanitätöfreunden (ich sage absichtlich
nicht Volksfreunden, weil solches einen ungehörigen Hochmuth vor¬
aussetzt) darzuthun, daß wir die volksthümliche Schrift und Sprache
erst in und mit der Freiheit gewinnen werden.

So lange die Humanität auf abstraktem Boden in Erörterung
der Principien stand, fand sie hochgestellte Gönner und Förderer;
jetzt, da sie hinaustritt in's Leben und nicht umhin kann, manches
lieb Gewordene und hoch Gehaltene zu verletzen oder anzugreifen,
jetzt muß sie sich Schritt für Schritt durch Hindernisse hindurch¬
schlagen. Selbstmörderisch wäre es aber doch, in eitler Lässigkeit


Grenzboten, 184«. II. 12
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[0101] lichen Leben geradezu auf den Leib geht. Das Wesen des Volks- thümlichen, des individuell Durchgearbeiteten und neugewonnenen ist aber, vom Einzelnen, Bestimmter, zum Allgemeinen aufzusteigen, während wir es jetzt meist den Lesern überlassen müssen, die allge¬ meinen Recepte ausiihre besondern Zustände anzuwenden und solche allein zu erkennen. Das erheischt aber eine Bildung, wie sie noch auf keine Weise vorausgesetzt werden kann. Neben der Verallgemeinerung der Gedanken ist man auch noch oft dazu verdammt, die offensten Ansichten zu verlarven, den red¬ lichsten und aufrichtigsten eine abschreckende Teufelsmaske vorzubin¬ den, damit man unter dem Scheine der Bekämpfung wenigstens eine-Erörterung anregen dürfe. Traurig, wer sich im Bewußtsein der guten Absicht dazu verleiten läßt, sich selbst und die von ihm ausgehende Wahrheit zu entweihen. In der Schrift, zumal in der volksthümlichen, sollen wir uns dem Sprechen nahe verhalten. Nun nistet sich aber das Bewußt¬ sein der Bevormundung in die Seele, oft noch bevor der Gedanke geboren, und beim Schreiben selber schaut uns oft die Polizei über die Schulter weg zu. Wir wollen keine Gelegenheit zum Streichen geben, weil die Streichlust weiter hinein fährt und Stellen ver¬ nichtet, die ohne ihren sträflich angesehenen Nachbar frei ausgegan¬ gen wären. Wir lernen im besten Falle die Kriegskunst, aber nicht die im offenen Felde, sondern die Kriegskunst der Schmuggler, mit ihren Schleichwegen und Kniffen. Wir können kaum mehr ermes¬ sen, welche Gedanken und welche Sprache wir gewonnen hätten, ohne daß das Bewußtsein der Bevormundung vor und in uns ge¬ setzt wäre. Es war nicht unnöthig, dies hier auszusprechen, um manchen vertrauensvollen Humanitätöfreunden (ich sage absichtlich nicht Volksfreunden, weil solches einen ungehörigen Hochmuth vor¬ aussetzt) darzuthun, daß wir die volksthümliche Schrift und Sprache erst in und mit der Freiheit gewinnen werden. So lange die Humanität auf abstraktem Boden in Erörterung der Principien stand, fand sie hochgestellte Gönner und Förderer; jetzt, da sie hinaustritt in's Leben und nicht umhin kann, manches lieb Gewordene und hoch Gehaltene zu verletzen oder anzugreifen, jetzt muß sie sich Schritt für Schritt durch Hindernisse hindurch¬ schlagen. Selbstmörderisch wäre es aber doch, in eitler Lässigkeit Grenzboten, 184«. II. 12

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365120/101>, abgerufen am 24.11.2024.