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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.

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Lesepublicum zu enthusiastischem Beifall entflammte. In den "Spazier¬
gängen" ist Grün der echte, wahrhafte Volksdichter, der Bvranger
Oesterreichs; das Gemüth des Volkes selbst mit seiner Naivetät und
Ursprünglichkeit bricht, plötzlich zum Bewußtsein gekommen, in erschüt¬
ternde Trauer aus über den Zwiespalt seines göttlichen Wesens und
Berufes mit dem bösen und ungöttlichen Staatöprincip. Daß diese
Trauer aber nicht ganz in elegische Weichheit zerfließe, noch völlig in
die Raserei des Zornes überspringe, dafür spricht der Humor, der sich
überall entzündet, wo das Edle, ursprünglich Gute, wie es eben immer
in einem Volke liegt, mit dem Unnatürlichen und Bösen in Reibung
geräth. Denn das Gute bewußt oder unbewußt davon durchdrungen,
daß es zugleich das Resultat der höchsten Weisheit sei, kann auch das
Böse nicht als bös, nur als belachenswerthen Unverstand erkennen.
Sein Zorn ist kein Verstößen in rettungslose Verdammniß, sondern ein
kräftiger Aufruf zur Seligkeit, die es selbst genießt, die Strafe, die es
ertheilt, ist kein Tod ohne Auferstehung, sondern das oft nur durch Zer¬
stören mögliche Einflößen des Lebensprincips, in welchem es sich selbst
bewegt. Im Bewußtsein dieses Guten geht der Wiener Poet in den
Burgen und Verschlägen des Absolutismus "spazieren" noch mächtiger
davon ergriffen, daß aus jedem dumpfen Kerkerloch die Aussicht herrscht auf
die bezaubernden Landstriche des natnrschönen Oesterreich und auf einen
ebenso schönen, treuherzigen Menschenschlag, der jetzt gezwungen ist,
blind sich nur durch das Gemüth zu äußern, vielleicht aber die geisti¬
gen Elemente zu einem weltgeschichtlichen Nationalbcruf in sich trägt.
Wo er verdammen muß, möchte er selig machen, wo er mit dem spitzig¬
sten Pfeil tödtet, möchte er ein höheres Dasein an die Stelle setzen.
Unendliche Liebe bewegt ihn zu dem Versuche, das Hassenswerthe unter
den Rosen zu ersticken, die es umblühen, die unerschütterliche Stabilität
durch den süßen Wein des eigenen Landes zum Taumeln zu bringen.
--, So steht Grün wie der Geist eines Volkes vor uns, nicht eines
abgeschiedenen, vielmehr eines noch nicht gebornen, seiner selbst noch
nicht bewußten Volkes, aus dessen Embryo nur der Einzelne in einer
vollendeten Entfaltung hervorging, deren Keime im ganzen Volk un¬
fruchtbar schlummern. An seiner Erscheinung wird uns klar, welcher
Entwicklungen der österreichische Volksgeist fähig wäre, wenn er ein¬
mal geweckt würde, welcher liebenswürdige und weltbedeutende Na¬
tionalcharakter zum Vorschein käme, wenn einst der giftige Sumpf, in
welchem er jetzr verstümmelt schmachtet, ausgetrocknet würde. Zur
Bewunderung und Liebe für Grün muß sich doppelte Wehmuth ge-


Lesepublicum zu enthusiastischem Beifall entflammte. In den „Spazier¬
gängen" ist Grün der echte, wahrhafte Volksdichter, der Bvranger
Oesterreichs; das Gemüth des Volkes selbst mit seiner Naivetät und
Ursprünglichkeit bricht, plötzlich zum Bewußtsein gekommen, in erschüt¬
ternde Trauer aus über den Zwiespalt seines göttlichen Wesens und
Berufes mit dem bösen und ungöttlichen Staatöprincip. Daß diese
Trauer aber nicht ganz in elegische Weichheit zerfließe, noch völlig in
die Raserei des Zornes überspringe, dafür spricht der Humor, der sich
überall entzündet, wo das Edle, ursprünglich Gute, wie es eben immer
in einem Volke liegt, mit dem Unnatürlichen und Bösen in Reibung
geräth. Denn das Gute bewußt oder unbewußt davon durchdrungen,
daß es zugleich das Resultat der höchsten Weisheit sei, kann auch das
Böse nicht als bös, nur als belachenswerthen Unverstand erkennen.
Sein Zorn ist kein Verstößen in rettungslose Verdammniß, sondern ein
kräftiger Aufruf zur Seligkeit, die es selbst genießt, die Strafe, die es
ertheilt, ist kein Tod ohne Auferstehung, sondern das oft nur durch Zer¬
stören mögliche Einflößen des Lebensprincips, in welchem es sich selbst
bewegt. Im Bewußtsein dieses Guten geht der Wiener Poet in den
Burgen und Verschlägen des Absolutismus „spazieren" noch mächtiger
davon ergriffen, daß aus jedem dumpfen Kerkerloch die Aussicht herrscht auf
die bezaubernden Landstriche des natnrschönen Oesterreich und auf einen
ebenso schönen, treuherzigen Menschenschlag, der jetzt gezwungen ist,
blind sich nur durch das Gemüth zu äußern, vielleicht aber die geisti¬
gen Elemente zu einem weltgeschichtlichen Nationalbcruf in sich trägt.
Wo er verdammen muß, möchte er selig machen, wo er mit dem spitzig¬
sten Pfeil tödtet, möchte er ein höheres Dasein an die Stelle setzen.
Unendliche Liebe bewegt ihn zu dem Versuche, das Hassenswerthe unter
den Rosen zu ersticken, die es umblühen, die unerschütterliche Stabilität
durch den süßen Wein des eigenen Landes zum Taumeln zu bringen.
—, So steht Grün wie der Geist eines Volkes vor uns, nicht eines
abgeschiedenen, vielmehr eines noch nicht gebornen, seiner selbst noch
nicht bewußten Volkes, aus dessen Embryo nur der Einzelne in einer
vollendeten Entfaltung hervorging, deren Keime im ganzen Volk un¬
fruchtbar schlummern. An seiner Erscheinung wird uns klar, welcher
Entwicklungen der österreichische Volksgeist fähig wäre, wenn er ein¬
mal geweckt würde, welcher liebenswürdige und weltbedeutende Na¬
tionalcharakter zum Vorschein käme, wenn einst der giftige Sumpf, in
welchem er jetzr verstümmelt schmachtet, ausgetrocknet würde. Zur
Bewunderung und Liebe für Grün muß sich doppelte Wehmuth ge-


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[0458] Lesepublicum zu enthusiastischem Beifall entflammte. In den „Spazier¬ gängen" ist Grün der echte, wahrhafte Volksdichter, der Bvranger Oesterreichs; das Gemüth des Volkes selbst mit seiner Naivetät und Ursprünglichkeit bricht, plötzlich zum Bewußtsein gekommen, in erschüt¬ ternde Trauer aus über den Zwiespalt seines göttlichen Wesens und Berufes mit dem bösen und ungöttlichen Staatöprincip. Daß diese Trauer aber nicht ganz in elegische Weichheit zerfließe, noch völlig in die Raserei des Zornes überspringe, dafür spricht der Humor, der sich überall entzündet, wo das Edle, ursprünglich Gute, wie es eben immer in einem Volke liegt, mit dem Unnatürlichen und Bösen in Reibung geräth. Denn das Gute bewußt oder unbewußt davon durchdrungen, daß es zugleich das Resultat der höchsten Weisheit sei, kann auch das Böse nicht als bös, nur als belachenswerthen Unverstand erkennen. Sein Zorn ist kein Verstößen in rettungslose Verdammniß, sondern ein kräftiger Aufruf zur Seligkeit, die es selbst genießt, die Strafe, die es ertheilt, ist kein Tod ohne Auferstehung, sondern das oft nur durch Zer¬ stören mögliche Einflößen des Lebensprincips, in welchem es sich selbst bewegt. Im Bewußtsein dieses Guten geht der Wiener Poet in den Burgen und Verschlägen des Absolutismus „spazieren" noch mächtiger davon ergriffen, daß aus jedem dumpfen Kerkerloch die Aussicht herrscht auf die bezaubernden Landstriche des natnrschönen Oesterreich und auf einen ebenso schönen, treuherzigen Menschenschlag, der jetzt gezwungen ist, blind sich nur durch das Gemüth zu äußern, vielleicht aber die geisti¬ gen Elemente zu einem weltgeschichtlichen Nationalbcruf in sich trägt. Wo er verdammen muß, möchte er selig machen, wo er mit dem spitzig¬ sten Pfeil tödtet, möchte er ein höheres Dasein an die Stelle setzen. Unendliche Liebe bewegt ihn zu dem Versuche, das Hassenswerthe unter den Rosen zu ersticken, die es umblühen, die unerschütterliche Stabilität durch den süßen Wein des eigenen Landes zum Taumeln zu bringen. —, So steht Grün wie der Geist eines Volkes vor uns, nicht eines abgeschiedenen, vielmehr eines noch nicht gebornen, seiner selbst noch nicht bewußten Volkes, aus dessen Embryo nur der Einzelne in einer vollendeten Entfaltung hervorging, deren Keime im ganzen Volk un¬ fruchtbar schlummern. An seiner Erscheinung wird uns klar, welcher Entwicklungen der österreichische Volksgeist fähig wäre, wenn er ein¬ mal geweckt würde, welcher liebenswürdige und weltbedeutende Na¬ tionalcharakter zum Vorschein käme, wenn einst der giftige Sumpf, in welchem er jetzr verstümmelt schmachtet, ausgetrocknet würde. Zur Bewunderung und Liebe für Grün muß sich doppelte Wehmuth ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/458>, abgerufen am 24.07.2024.