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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.

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muian als Repräsentant einer untergehenden Epoche für epische Be¬
handlung geeigneter, als sonst deutsche Geschichte; einerseits blickt sein
Janusgesicht in die volle Herrlichkeit des langsam abzusterben begin¬
nenden Mittelalters, andererseits in die sich vom Todten unter mamüch-
fachen Kämpfen losringende neue Zeit, wodurch wir mit den finstern
Schrecken und entwürdigenden Volkszuständen jener Jahrhunderte ge¬
wissermaßen versöhnt werden. So war denn dieser Stoff ein vorzüg¬
liches Feld für Grün's Muse, die sich gern dem Edlen und Ritter¬
lichen, dem Romantischen anschmiegt, zugleich aber nicht das Leichen¬
hafte in feine Urelemente zersetzen, sondern mit neuem, lebendigen Leben
erfüllen will. Der Geist dieses lebendigen Lebens geht nun auch durch
das ganze Werk, zuweilen fast wie ein Anachronismus, wie eine zu
frühzeitig schmetternde Lerche des künftigen Frühlings. Nach den treu¬
herzig naiven Tönen seines echt österreichischen Gemüths gaukeln die
Reize in Maximilians Zeit und Leben vorüber, Turnier und Gottes¬
gericht, Krieg und mmnigiicheS Lieben, deutsche Frömmigkeit und schalk¬
hafter Humor. Ueber die Zerklüftungen und Schmerzen der Geschichte
fliegt er leicht hinweg, ist doch Vieles seitdem ausgeglichen und wäre
es doch Grausamkeit, den Boden der Vergangenheit aufzuwühlen, nur
um schreckendes Todtengebein daraus hervorzuziehen, ergräbt lieber nach
ewig funkelnden Schätzen. Der glückliche Gedanke, dem Nibelungen¬
vers wieder neue epische Geltung zu verschaffen, belohnt sich, indem
er mit seinem weichen, melodischen Schritt zwanglos alle Tonarten
der Darstellung erreicht. Deutschland begrüßte das Werk mit über¬
raschter Aufmerksamkeit und wird es für immer in liebevollster Erinne¬
rung hegen.

Aber seine Muse sollte den Kämpfen und Bestrebungen der Ge¬
genwart einen noch reichern Tribut zollen, als es im "letzten Ritter"
nur beziehungsweise geschehen konnte. Die Julirevolution trug das
Wort "Freiheit" wieder mit Donnerstimme dnrch Europa, daß sich ihm
sogar das dafür so harte Ohr Deutschlands nicht ganz verschließen
konnte, und selbst nach Oesterreich drang es, wo es freilich kein lau¬
schendes Volk, weil überhaupt kein Volk fand, aber doch die stille,
versteckte Theilnahme der Edlen und den begeisterten Schmerz des
Poeten. Anastasius Grün hatte den Muth, diesen Schmerz auszu¬
sprechen und die für die darauf folgende politische Poesie so folgenrei¬
chen "Spaziergänge eines Wiener Poeten" erschienen. Der mißbrauchte
Name Tyrtäus wird Keinem mit größerm Rechte beigelegt als Grün,
wenn er auch durch seine Gesänge keine Nation zu Thaten, nur ein


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muian als Repräsentant einer untergehenden Epoche für epische Be¬
handlung geeigneter, als sonst deutsche Geschichte; einerseits blickt sein
Janusgesicht in die volle Herrlichkeit des langsam abzusterben begin¬
nenden Mittelalters, andererseits in die sich vom Todten unter mamüch-
fachen Kämpfen losringende neue Zeit, wodurch wir mit den finstern
Schrecken und entwürdigenden Volkszuständen jener Jahrhunderte ge¬
wissermaßen versöhnt werden. So war denn dieser Stoff ein vorzüg¬
liches Feld für Grün's Muse, die sich gern dem Edlen und Ritter¬
lichen, dem Romantischen anschmiegt, zugleich aber nicht das Leichen¬
hafte in feine Urelemente zersetzen, sondern mit neuem, lebendigen Leben
erfüllen will. Der Geist dieses lebendigen Lebens geht nun auch durch
das ganze Werk, zuweilen fast wie ein Anachronismus, wie eine zu
frühzeitig schmetternde Lerche des künftigen Frühlings. Nach den treu¬
herzig naiven Tönen seines echt österreichischen Gemüths gaukeln die
Reize in Maximilians Zeit und Leben vorüber, Turnier und Gottes¬
gericht, Krieg und mmnigiicheS Lieben, deutsche Frömmigkeit und schalk¬
hafter Humor. Ueber die Zerklüftungen und Schmerzen der Geschichte
fliegt er leicht hinweg, ist doch Vieles seitdem ausgeglichen und wäre
es doch Grausamkeit, den Boden der Vergangenheit aufzuwühlen, nur
um schreckendes Todtengebein daraus hervorzuziehen, ergräbt lieber nach
ewig funkelnden Schätzen. Der glückliche Gedanke, dem Nibelungen¬
vers wieder neue epische Geltung zu verschaffen, belohnt sich, indem
er mit seinem weichen, melodischen Schritt zwanglos alle Tonarten
der Darstellung erreicht. Deutschland begrüßte das Werk mit über¬
raschter Aufmerksamkeit und wird es für immer in liebevollster Erinne¬
rung hegen.

Aber seine Muse sollte den Kämpfen und Bestrebungen der Ge¬
genwart einen noch reichern Tribut zollen, als es im „letzten Ritter"
nur beziehungsweise geschehen konnte. Die Julirevolution trug das
Wort „Freiheit" wieder mit Donnerstimme dnrch Europa, daß sich ihm
sogar das dafür so harte Ohr Deutschlands nicht ganz verschließen
konnte, und selbst nach Oesterreich drang es, wo es freilich kein lau¬
schendes Volk, weil überhaupt kein Volk fand, aber doch die stille,
versteckte Theilnahme der Edlen und den begeisterten Schmerz des
Poeten. Anastasius Grün hatte den Muth, diesen Schmerz auszu¬
sprechen und die für die darauf folgende politische Poesie so folgenrei¬
chen „Spaziergänge eines Wiener Poeten" erschienen. Der mißbrauchte
Name Tyrtäus wird Keinem mit größerm Rechte beigelegt als Grün,
wenn er auch durch seine Gesänge keine Nation zu Thaten, nur ein


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[0457] muian als Repräsentant einer untergehenden Epoche für epische Be¬ handlung geeigneter, als sonst deutsche Geschichte; einerseits blickt sein Janusgesicht in die volle Herrlichkeit des langsam abzusterben begin¬ nenden Mittelalters, andererseits in die sich vom Todten unter mamüch- fachen Kämpfen losringende neue Zeit, wodurch wir mit den finstern Schrecken und entwürdigenden Volkszuständen jener Jahrhunderte ge¬ wissermaßen versöhnt werden. So war denn dieser Stoff ein vorzüg¬ liches Feld für Grün's Muse, die sich gern dem Edlen und Ritter¬ lichen, dem Romantischen anschmiegt, zugleich aber nicht das Leichen¬ hafte in feine Urelemente zersetzen, sondern mit neuem, lebendigen Leben erfüllen will. Der Geist dieses lebendigen Lebens geht nun auch durch das ganze Werk, zuweilen fast wie ein Anachronismus, wie eine zu frühzeitig schmetternde Lerche des künftigen Frühlings. Nach den treu¬ herzig naiven Tönen seines echt österreichischen Gemüths gaukeln die Reize in Maximilians Zeit und Leben vorüber, Turnier und Gottes¬ gericht, Krieg und mmnigiicheS Lieben, deutsche Frömmigkeit und schalk¬ hafter Humor. Ueber die Zerklüftungen und Schmerzen der Geschichte fliegt er leicht hinweg, ist doch Vieles seitdem ausgeglichen und wäre es doch Grausamkeit, den Boden der Vergangenheit aufzuwühlen, nur um schreckendes Todtengebein daraus hervorzuziehen, ergräbt lieber nach ewig funkelnden Schätzen. Der glückliche Gedanke, dem Nibelungen¬ vers wieder neue epische Geltung zu verschaffen, belohnt sich, indem er mit seinem weichen, melodischen Schritt zwanglos alle Tonarten der Darstellung erreicht. Deutschland begrüßte das Werk mit über¬ raschter Aufmerksamkeit und wird es für immer in liebevollster Erinne¬ rung hegen. Aber seine Muse sollte den Kämpfen und Bestrebungen der Ge¬ genwart einen noch reichern Tribut zollen, als es im „letzten Ritter" nur beziehungsweise geschehen konnte. Die Julirevolution trug das Wort „Freiheit" wieder mit Donnerstimme dnrch Europa, daß sich ihm sogar das dafür so harte Ohr Deutschlands nicht ganz verschließen konnte, und selbst nach Oesterreich drang es, wo es freilich kein lau¬ schendes Volk, weil überhaupt kein Volk fand, aber doch die stille, versteckte Theilnahme der Edlen und den begeisterten Schmerz des Poeten. Anastasius Grün hatte den Muth, diesen Schmerz auszu¬ sprechen und die für die darauf folgende politische Poesie so folgenrei¬ chen „Spaziergänge eines Wiener Poeten" erschienen. Der mißbrauchte Name Tyrtäus wird Keinem mit größerm Rechte beigelegt als Grün, wenn er auch durch seine Gesänge keine Nation zu Thaten, nur ein Grenzboten. IN. Isi«!- 61

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/457>, abgerufen am 25.07.2024.