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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.

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und bot ihm bereitwillig seine Loge an, was Jener mit großem Dank
annahm. Der junge Mann war -- Bayard!

Unsere beiden Zuschauer hatten kaum Zeit gehabt, einige Höflich¬
keiten mit einander auszutauschen, als der Vorhang in die Höhe ging;
Beide wurden sofort still und aufmerksam, und dieselbe Spannung
malte sich in ihren auf die Bühne gerichteten Blicken. Aber diese
Uebereinstimmung in dem Ausdruck ihrer Physiognomie dauerte nicht
lange. Erstaunen, Unzufriedenheit malte sich plötzlich auf Samt Scribe's
Gesicht; er machte große Augen, er hörte gespannt hin, er klopfte sich
auf die Stirn. Was ward aus seinem Sujet? Wo ist seine Intrigue
hingekommen? Sind das die Situationen, die er combinirt, die Scenen,
die er geschrieben ? Nicht in einem Wort, das die Schauspieler sprachen,
erkannte er sein geistiges Eigenthum. "Dahinter steckt ein Geheimniß",
dachte er, "dessen Enthüllung ich um jeden Preis haben muß". Er
wollte eiligst seinen Sitz verlassen, um auf der Bühne sich Aufschluß
zu holen, als seine Blicke auf seinen Nachbar fielen und an diesem
mit Erstaunen die Symptome der heftigsten und sonderbarsten Aufre¬
gung sah.

Bayard hatte den Körper nach vorn geneigt und den Kopf aus
der Loge gestreckt; sein Gesicht erröthete und erbleichte zwanzigmal in
einer Minute; bald hörte er hin und hielt den Athem an sich, als
fürchtete er, die Aufmerksamkeit des Publicums zu stören oder ein
Wort von dem, was der Schauspieler sagte, zu verlieren; bald ließ er
seinen Blick vom Parterre auf's Orchester, von den Logen auf die
Gallerten schweifen, und seine Stirn erheiterte oder umwölkte sich, je
nachdem man Beifall klatschte oder stille blieb. Endlich, als ein Schau¬
spieler ein Versehen begangen, erhob er sich zornig und rasch, ließ sich
dann aber ebenso rasch wieder auf seinen Sitz niederfallen, indem er
krampfhaft Worte vor sich hin murmelte. -- "Was ist Ihnen den",
Herr?" fragte ihn Scribe, der sich von seinem Erstaunen nicht erholen
konnte. -- "Was mir ist?" antwortete Bayard; "ich dulde Märtyrer¬
qualen; da ist ein Liebhaber, der kein Wort von seiner Rolle weiß
und den Erfolg des Stücks compromittiren wird ... Sehen Sie,
sehen Sie, jetzt spielt die Liebhaberin mit einer zur Verzweiflung brin¬
genden Kälte! ... Und der Vater, der nicht kommt! Die Scene
wird fehlschlagen ... Das Publicum wird zischen ... Nein! .."
Er entschließt sich endlich ... es ist glücklich vorüber. --

Scribe's Erstaunen hatte den höchsten Gipfel erreicht. -- "Sie


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und bot ihm bereitwillig seine Loge an, was Jener mit großem Dank
annahm. Der junge Mann war — Bayard!

Unsere beiden Zuschauer hatten kaum Zeit gehabt, einige Höflich¬
keiten mit einander auszutauschen, als der Vorhang in die Höhe ging;
Beide wurden sofort still und aufmerksam, und dieselbe Spannung
malte sich in ihren auf die Bühne gerichteten Blicken. Aber diese
Uebereinstimmung in dem Ausdruck ihrer Physiognomie dauerte nicht
lange. Erstaunen, Unzufriedenheit malte sich plötzlich auf Samt Scribe's
Gesicht; er machte große Augen, er hörte gespannt hin, er klopfte sich
auf die Stirn. Was ward aus seinem Sujet? Wo ist seine Intrigue
hingekommen? Sind das die Situationen, die er combinirt, die Scenen,
die er geschrieben ? Nicht in einem Wort, das die Schauspieler sprachen,
erkannte er sein geistiges Eigenthum. „Dahinter steckt ein Geheimniß",
dachte er, „dessen Enthüllung ich um jeden Preis haben muß". Er
wollte eiligst seinen Sitz verlassen, um auf der Bühne sich Aufschluß
zu holen, als seine Blicke auf seinen Nachbar fielen und an diesem
mit Erstaunen die Symptome der heftigsten und sonderbarsten Aufre¬
gung sah.

Bayard hatte den Körper nach vorn geneigt und den Kopf aus
der Loge gestreckt; sein Gesicht erröthete und erbleichte zwanzigmal in
einer Minute; bald hörte er hin und hielt den Athem an sich, als
fürchtete er, die Aufmerksamkeit des Publicums zu stören oder ein
Wort von dem, was der Schauspieler sagte, zu verlieren; bald ließ er
seinen Blick vom Parterre auf's Orchester, von den Logen auf die
Gallerten schweifen, und seine Stirn erheiterte oder umwölkte sich, je
nachdem man Beifall klatschte oder stille blieb. Endlich, als ein Schau¬
spieler ein Versehen begangen, erhob er sich zornig und rasch, ließ sich
dann aber ebenso rasch wieder auf seinen Sitz niederfallen, indem er
krampfhaft Worte vor sich hin murmelte. — „Was ist Ihnen den«,
Herr?" fragte ihn Scribe, der sich von seinem Erstaunen nicht erholen
konnte. — „Was mir ist?" antwortete Bayard; „ich dulde Märtyrer¬
qualen; da ist ein Liebhaber, der kein Wort von seiner Rolle weiß
und den Erfolg des Stücks compromittiren wird ... Sehen Sie,
sehen Sie, jetzt spielt die Liebhaberin mit einer zur Verzweiflung brin¬
genden Kälte! ... Und der Vater, der nicht kommt! Die Scene
wird fehlschlagen ... Das Publicum wird zischen ... Nein! ..»
Er entschließt sich endlich ... es ist glücklich vorüber. —

Scribe's Erstaunen hatte den höchsten Gipfel erreicht. — „Sie


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[0431] und bot ihm bereitwillig seine Loge an, was Jener mit großem Dank annahm. Der junge Mann war — Bayard! Unsere beiden Zuschauer hatten kaum Zeit gehabt, einige Höflich¬ keiten mit einander auszutauschen, als der Vorhang in die Höhe ging; Beide wurden sofort still und aufmerksam, und dieselbe Spannung malte sich in ihren auf die Bühne gerichteten Blicken. Aber diese Uebereinstimmung in dem Ausdruck ihrer Physiognomie dauerte nicht lange. Erstaunen, Unzufriedenheit malte sich plötzlich auf Samt Scribe's Gesicht; er machte große Augen, er hörte gespannt hin, er klopfte sich auf die Stirn. Was ward aus seinem Sujet? Wo ist seine Intrigue hingekommen? Sind das die Situationen, die er combinirt, die Scenen, die er geschrieben ? Nicht in einem Wort, das die Schauspieler sprachen, erkannte er sein geistiges Eigenthum. „Dahinter steckt ein Geheimniß", dachte er, „dessen Enthüllung ich um jeden Preis haben muß". Er wollte eiligst seinen Sitz verlassen, um auf der Bühne sich Aufschluß zu holen, als seine Blicke auf seinen Nachbar fielen und an diesem mit Erstaunen die Symptome der heftigsten und sonderbarsten Aufre¬ gung sah. Bayard hatte den Körper nach vorn geneigt und den Kopf aus der Loge gestreckt; sein Gesicht erröthete und erbleichte zwanzigmal in einer Minute; bald hörte er hin und hielt den Athem an sich, als fürchtete er, die Aufmerksamkeit des Publicums zu stören oder ein Wort von dem, was der Schauspieler sagte, zu verlieren; bald ließ er seinen Blick vom Parterre auf's Orchester, von den Logen auf die Gallerten schweifen, und seine Stirn erheiterte oder umwölkte sich, je nachdem man Beifall klatschte oder stille blieb. Endlich, als ein Schau¬ spieler ein Versehen begangen, erhob er sich zornig und rasch, ließ sich dann aber ebenso rasch wieder auf seinen Sitz niederfallen, indem er krampfhaft Worte vor sich hin murmelte. — „Was ist Ihnen den«, Herr?" fragte ihn Scribe, der sich von seinem Erstaunen nicht erholen konnte. — „Was mir ist?" antwortete Bayard; „ich dulde Märtyrer¬ qualen; da ist ein Liebhaber, der kein Wort von seiner Rolle weiß und den Erfolg des Stücks compromittiren wird ... Sehen Sie, sehen Sie, jetzt spielt die Liebhaberin mit einer zur Verzweiflung brin¬ genden Kälte! ... Und der Vater, der nicht kommt! Die Scene wird fehlschlagen ... Das Publicum wird zischen ... Nein! ..» Er entschließt sich endlich ... es ist glücklich vorüber. — Scribe's Erstaunen hatte den höchsten Gipfel erreicht. — „Sie Crenjbvtcn. III. 57

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/431>, abgerufen am 24.07.2024.