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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.

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Motiven Zuflucht genommen. Wozu melodramatische Scenen mitten
unter diesen lieblichen Skizzen? Die Geschichte "Tonerle's mit der ge¬
bissenen Wange" enthält mehr als einen reizenden Zug, aber der Schluß
gehört, wenn ich so sagen darf, ans einer andern Sprache, einer an¬
Literatur an. Das Verbrechen, das die Erzählung mit Blut besudelt,
ist nicht in der naturgemäßen Weise des Verfassers; wir sind nicht
mehr in Nordstetten, wir haben nicht mehr den treuen Chronisten zur
Hand, sondern einen gewöhnlichen Romanschreiber, einen Fabrikanten.
Derselbe Vorwurf trifft auch die Geschichte "Vetele's", obwohl ich
darin auch schöne Züge finde. Das Talent Auerbach'ö spricht sich
besonders in zarten Gemälden aus, in den geschickt gruppirten Scenen
von anmuthig heiterer Farbe, von naiver Wahrheit, durch welche stets
eine reine, moralische Erhebung durchscheint. Zuweilen brechen auch
politische Anspielungen durch, aber mit welcher besonnenen Anordnung!
Hierin erkenne ich den zarten Künstler. Die Rechtschaffenheit, die
Gradheit seiner Bauern, das naive Bewußtsein ihrer Rechte sprechen
sich ohne Prunk aus, in ächter Gutmüthigkeit. Das schöne Lied
Uhlands über das "alte Recht" könnte den Hauptstücken der Samm¬
lung zum Motto dienen. Nordstetten hat seine Patriarchen, die in
allen Sachen, die das gemeine Recht betreffen, eine große Autorität
besitzen. Der Oberamtmann darf es sich nicht herausnehmen, neue
Gebräuche einzuführen und die alten Freiheiten zu beschränken; er
wird einer verständigen, zähen Opposition begegnen. Einer jener stets
zu Rathe gezogenen Rechtskundigen, einer jener Vertheidiger der Ge¬
meinde, ist der "Buchmaler". Der Buchmaler gilt für den weisesten
und erfahrensten, an ihn wendet man sich bei jeder schwierigen Gele¬
genheit; wenn Hansjörg oder Valentin vor den Richter geführt wird,
weil sie einen Baumzweig im Walde abgeschnitten, geht der Buch¬
maler mit ihm und vertheidigt den Angeklagten. Wenn eine unge¬
setzliche Verordnung, ein ungerechtes Verbot erlassen wird, leitet er in
Person einen kleinen friedlichen Aufstand, und hält, begleitet von dem
ganzen Dorf, eine Rede an den Oberamtmann, die ein Meisterstück
von gesundem Menschenverstand und Volksberedtsamkeit ist. Doch der
Buchmaler ist nicht immer tadellos; oft legt er die Gerechtsame, die
er vertheidigt, auf eine engherzige Weise aus und hält seine Vorur¬
theile für wirkliche Rechte. Zum Glück wird der Schulmeister, der
von ihm sehr schlecht empfangen wird, diesen ehrlichen, aber beschränk¬
ten Volksverstand, der oft so sehr zur Unzeit eigensinnig ist, berichti¬
gen. So entwickelt sich in diesen verschiedenen Bildern die Einheit


Motiven Zuflucht genommen. Wozu melodramatische Scenen mitten
unter diesen lieblichen Skizzen? Die Geschichte „Tonerle's mit der ge¬
bissenen Wange" enthält mehr als einen reizenden Zug, aber der Schluß
gehört, wenn ich so sagen darf, ans einer andern Sprache, einer an¬
Literatur an. Das Verbrechen, das die Erzählung mit Blut besudelt,
ist nicht in der naturgemäßen Weise des Verfassers; wir sind nicht
mehr in Nordstetten, wir haben nicht mehr den treuen Chronisten zur
Hand, sondern einen gewöhnlichen Romanschreiber, einen Fabrikanten.
Derselbe Vorwurf trifft auch die Geschichte „Vetele's", obwohl ich
darin auch schöne Züge finde. Das Talent Auerbach'ö spricht sich
besonders in zarten Gemälden aus, in den geschickt gruppirten Scenen
von anmuthig heiterer Farbe, von naiver Wahrheit, durch welche stets
eine reine, moralische Erhebung durchscheint. Zuweilen brechen auch
politische Anspielungen durch, aber mit welcher besonnenen Anordnung!
Hierin erkenne ich den zarten Künstler. Die Rechtschaffenheit, die
Gradheit seiner Bauern, das naive Bewußtsein ihrer Rechte sprechen
sich ohne Prunk aus, in ächter Gutmüthigkeit. Das schöne Lied
Uhlands über das „alte Recht" könnte den Hauptstücken der Samm¬
lung zum Motto dienen. Nordstetten hat seine Patriarchen, die in
allen Sachen, die das gemeine Recht betreffen, eine große Autorität
besitzen. Der Oberamtmann darf es sich nicht herausnehmen, neue
Gebräuche einzuführen und die alten Freiheiten zu beschränken; er
wird einer verständigen, zähen Opposition begegnen. Einer jener stets
zu Rathe gezogenen Rechtskundigen, einer jener Vertheidiger der Ge¬
meinde, ist der „Buchmaler". Der Buchmaler gilt für den weisesten
und erfahrensten, an ihn wendet man sich bei jeder schwierigen Gele¬
genheit; wenn Hansjörg oder Valentin vor den Richter geführt wird,
weil sie einen Baumzweig im Walde abgeschnitten, geht der Buch¬
maler mit ihm und vertheidigt den Angeklagten. Wenn eine unge¬
setzliche Verordnung, ein ungerechtes Verbot erlassen wird, leitet er in
Person einen kleinen friedlichen Aufstand, und hält, begleitet von dem
ganzen Dorf, eine Rede an den Oberamtmann, die ein Meisterstück
von gesundem Menschenverstand und Volksberedtsamkeit ist. Doch der
Buchmaler ist nicht immer tadellos; oft legt er die Gerechtsame, die
er vertheidigt, auf eine engherzige Weise aus und hält seine Vorur¬
theile für wirkliche Rechte. Zum Glück wird der Schulmeister, der
von ihm sehr schlecht empfangen wird, diesen ehrlichen, aber beschränk¬
ten Volksverstand, der oft so sehr zur Unzeit eigensinnig ist, berichti¬
gen. So entwickelt sich in diesen verschiedenen Bildern die Einheit


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[0038] Motiven Zuflucht genommen. Wozu melodramatische Scenen mitten unter diesen lieblichen Skizzen? Die Geschichte „Tonerle's mit der ge¬ bissenen Wange" enthält mehr als einen reizenden Zug, aber der Schluß gehört, wenn ich so sagen darf, ans einer andern Sprache, einer an¬ Literatur an. Das Verbrechen, das die Erzählung mit Blut besudelt, ist nicht in der naturgemäßen Weise des Verfassers; wir sind nicht mehr in Nordstetten, wir haben nicht mehr den treuen Chronisten zur Hand, sondern einen gewöhnlichen Romanschreiber, einen Fabrikanten. Derselbe Vorwurf trifft auch die Geschichte „Vetele's", obwohl ich darin auch schöne Züge finde. Das Talent Auerbach'ö spricht sich besonders in zarten Gemälden aus, in den geschickt gruppirten Scenen von anmuthig heiterer Farbe, von naiver Wahrheit, durch welche stets eine reine, moralische Erhebung durchscheint. Zuweilen brechen auch politische Anspielungen durch, aber mit welcher besonnenen Anordnung! Hierin erkenne ich den zarten Künstler. Die Rechtschaffenheit, die Gradheit seiner Bauern, das naive Bewußtsein ihrer Rechte sprechen sich ohne Prunk aus, in ächter Gutmüthigkeit. Das schöne Lied Uhlands über das „alte Recht" könnte den Hauptstücken der Samm¬ lung zum Motto dienen. Nordstetten hat seine Patriarchen, die in allen Sachen, die das gemeine Recht betreffen, eine große Autorität besitzen. Der Oberamtmann darf es sich nicht herausnehmen, neue Gebräuche einzuführen und die alten Freiheiten zu beschränken; er wird einer verständigen, zähen Opposition begegnen. Einer jener stets zu Rathe gezogenen Rechtskundigen, einer jener Vertheidiger der Ge¬ meinde, ist der „Buchmaler". Der Buchmaler gilt für den weisesten und erfahrensten, an ihn wendet man sich bei jeder schwierigen Gele¬ genheit; wenn Hansjörg oder Valentin vor den Richter geführt wird, weil sie einen Baumzweig im Walde abgeschnitten, geht der Buch¬ maler mit ihm und vertheidigt den Angeklagten. Wenn eine unge¬ setzliche Verordnung, ein ungerechtes Verbot erlassen wird, leitet er in Person einen kleinen friedlichen Aufstand, und hält, begleitet von dem ganzen Dorf, eine Rede an den Oberamtmann, die ein Meisterstück von gesundem Menschenverstand und Volksberedtsamkeit ist. Doch der Buchmaler ist nicht immer tadellos; oft legt er die Gerechtsame, die er vertheidigt, auf eine engherzige Weise aus und hält seine Vorur¬ theile für wirkliche Rechte. Zum Glück wird der Schulmeister, der von ihm sehr schlecht empfangen wird, diesen ehrlichen, aber beschränk¬ ten Volksverstand, der oft so sehr zur Unzeit eigensinnig ist, berichti¬ gen. So entwickelt sich in diesen verschiedenen Bildern die Einheit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/38>, abgerufen am 24.07.2024.