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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.

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Zum Schlüsse meint der ehrenwerthe Redner: "Nach der Krönung
eines deutschen Kaisers habe der Kaiser sich zuerst an die Ritterschaft
des Reiches gewendet und gefragt: Ist kein Dalberg da? Es möge
in jenen Tagen der Zukunft auch vielleicht ein Bürger oder Bauer,
oder anderer Genosse unserer Provinz fragen: Wo waren denn da¬
mals die Vertreter der alten Geschlechter? Möchten dann die Nach¬
kommen sagen können: Sie hatten allesammt sich eingefunden und
beschlossen, den König an sein Wort zu mahnen."

Ich meine, kein Westphale wird wohl eine solche Frage thun, wenn
nicht vielleicht jener Abgeordnete aus dem Bauernstande, welcher das
Wort dahin nahm: "Den Erfahrungen zufolge, die er von seinem
Standpunkte machen könne, sei die Provinz mit dem bisherigen pro--
vinzialständischen Institute schon nicht zufrieden. Er, seines Theils,
befinde sich als Mitglied der Provinzialstände kaum und mühsam in
der Lage, sich orientirt zu haben; würden Reichsstände eingeführt, so
würden vielleicht manche Männer seines Standes vollends nicht zur
Uebersicht gelangen können."

Diese bäuerliche Bescheidenheit (oder sollte jener Deputirte nur
ironisch gesprochen haben), gegenüber der aristokratischen Anmaßung
des Antragstellers, charakterisirt das Verhältniß der verschiedenen Stände
in der Provinz. Selbst der reiche Bauer erkennt einen ungeheuern
Abstand zwischen sich und dem "Cavalier" an, obgleich Letzterer in sehr
vielen Fällen ihm weder an Einfluß noch an Bildung überlegen ist.
Der Unterschied der Stände ist unter der ackerbauenden Bevölkerung
Westphalens und besonders des Münsterlandes in der That bis in's
Genaueste und Kleinste durchgeführt, so daß ein Anhänger der christlich¬
germanischen Rechtsphilosophie ->, In Stahl darüber in Begeisterung
gerathen könnte. Zuerst natürlich unterscheidet sich die Bevölkerung
des platten Landes in Herren und Bauern, in adelige.und bäuerliche
Besitzer. Aber unter diesen beiden Klassen, welch' eine Masse von
Unterabtheilungen und Standesverschiedenheiten finden sich noch vor?
Der früher reichsunmittelbar gewesene Adel unterscheidet sich mit der
Genauigkeit der spanischen Hofetiquette von den übrigen Grafen und
Freiherren des Landes, die Grafen sehen ebenso stolz auf die Frei¬
herren, wie diese auf die einfachen Landedelleute herab. Letztere aber
rächen und entschädigen sich dadurch, daß sie den Briefadel, den Be¬
amtenadel, der besonders unter Friedrich Wilhelms II. Regierung sehr
verbreitet wurde, gänzlich übersehen und vernachlässigen. So haben
sich innerhalb der adeligen Gesellschaft zu Münster mehrere Cliquen


Zum Schlüsse meint der ehrenwerthe Redner: „Nach der Krönung
eines deutschen Kaisers habe der Kaiser sich zuerst an die Ritterschaft
des Reiches gewendet und gefragt: Ist kein Dalberg da? Es möge
in jenen Tagen der Zukunft auch vielleicht ein Bürger oder Bauer,
oder anderer Genosse unserer Provinz fragen: Wo waren denn da¬
mals die Vertreter der alten Geschlechter? Möchten dann die Nach¬
kommen sagen können: Sie hatten allesammt sich eingefunden und
beschlossen, den König an sein Wort zu mahnen."

Ich meine, kein Westphale wird wohl eine solche Frage thun, wenn
nicht vielleicht jener Abgeordnete aus dem Bauernstande, welcher das
Wort dahin nahm: „Den Erfahrungen zufolge, die er von seinem
Standpunkte machen könne, sei die Provinz mit dem bisherigen pro--
vinzialständischen Institute schon nicht zufrieden. Er, seines Theils,
befinde sich als Mitglied der Provinzialstände kaum und mühsam in
der Lage, sich orientirt zu haben; würden Reichsstände eingeführt, so
würden vielleicht manche Männer seines Standes vollends nicht zur
Uebersicht gelangen können."

Diese bäuerliche Bescheidenheit (oder sollte jener Deputirte nur
ironisch gesprochen haben), gegenüber der aristokratischen Anmaßung
des Antragstellers, charakterisirt das Verhältniß der verschiedenen Stände
in der Provinz. Selbst der reiche Bauer erkennt einen ungeheuern
Abstand zwischen sich und dem „Cavalier" an, obgleich Letzterer in sehr
vielen Fällen ihm weder an Einfluß noch an Bildung überlegen ist.
Der Unterschied der Stände ist unter der ackerbauenden Bevölkerung
Westphalens und besonders des Münsterlandes in der That bis in's
Genaueste und Kleinste durchgeführt, so daß ein Anhänger der christlich¬
germanischen Rechtsphilosophie ->, In Stahl darüber in Begeisterung
gerathen könnte. Zuerst natürlich unterscheidet sich die Bevölkerung
des platten Landes in Herren und Bauern, in adelige.und bäuerliche
Besitzer. Aber unter diesen beiden Klassen, welch' eine Masse von
Unterabtheilungen und Standesverschiedenheiten finden sich noch vor?
Der früher reichsunmittelbar gewesene Adel unterscheidet sich mit der
Genauigkeit der spanischen Hofetiquette von den übrigen Grafen und
Freiherren des Landes, die Grafen sehen ebenso stolz auf die Frei¬
herren, wie diese auf die einfachen Landedelleute herab. Letztere aber
rächen und entschädigen sich dadurch, daß sie den Briefadel, den Be¬
amtenadel, der besonders unter Friedrich Wilhelms II. Regierung sehr
verbreitet wurde, gänzlich übersehen und vernachlässigen. So haben
sich innerhalb der adeligen Gesellschaft zu Münster mehrere Cliquen


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[0372] Zum Schlüsse meint der ehrenwerthe Redner: „Nach der Krönung eines deutschen Kaisers habe der Kaiser sich zuerst an die Ritterschaft des Reiches gewendet und gefragt: Ist kein Dalberg da? Es möge in jenen Tagen der Zukunft auch vielleicht ein Bürger oder Bauer, oder anderer Genosse unserer Provinz fragen: Wo waren denn da¬ mals die Vertreter der alten Geschlechter? Möchten dann die Nach¬ kommen sagen können: Sie hatten allesammt sich eingefunden und beschlossen, den König an sein Wort zu mahnen." Ich meine, kein Westphale wird wohl eine solche Frage thun, wenn nicht vielleicht jener Abgeordnete aus dem Bauernstande, welcher das Wort dahin nahm: „Den Erfahrungen zufolge, die er von seinem Standpunkte machen könne, sei die Provinz mit dem bisherigen pro-- vinzialständischen Institute schon nicht zufrieden. Er, seines Theils, befinde sich als Mitglied der Provinzialstände kaum und mühsam in der Lage, sich orientirt zu haben; würden Reichsstände eingeführt, so würden vielleicht manche Männer seines Standes vollends nicht zur Uebersicht gelangen können." Diese bäuerliche Bescheidenheit (oder sollte jener Deputirte nur ironisch gesprochen haben), gegenüber der aristokratischen Anmaßung des Antragstellers, charakterisirt das Verhältniß der verschiedenen Stände in der Provinz. Selbst der reiche Bauer erkennt einen ungeheuern Abstand zwischen sich und dem „Cavalier" an, obgleich Letzterer in sehr vielen Fällen ihm weder an Einfluß noch an Bildung überlegen ist. Der Unterschied der Stände ist unter der ackerbauenden Bevölkerung Westphalens und besonders des Münsterlandes in der That bis in's Genaueste und Kleinste durchgeführt, so daß ein Anhänger der christlich¬ germanischen Rechtsphilosophie ->, In Stahl darüber in Begeisterung gerathen könnte. Zuerst natürlich unterscheidet sich die Bevölkerung des platten Landes in Herren und Bauern, in adelige.und bäuerliche Besitzer. Aber unter diesen beiden Klassen, welch' eine Masse von Unterabtheilungen und Standesverschiedenheiten finden sich noch vor? Der früher reichsunmittelbar gewesene Adel unterscheidet sich mit der Genauigkeit der spanischen Hofetiquette von den übrigen Grafen und Freiherren des Landes, die Grafen sehen ebenso stolz auf die Frei¬ herren, wie diese auf die einfachen Landedelleute herab. Letztere aber rächen und entschädigen sich dadurch, daß sie den Briefadel, den Be¬ amtenadel, der besonders unter Friedrich Wilhelms II. Regierung sehr verbreitet wurde, gänzlich übersehen und vernachlässigen. So haben sich innerhalb der adeligen Gesellschaft zu Münster mehrere Cliquen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/372>, abgerufen am 24.07.2024.