Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

nisse einer deutschen Feder? Und gibt es etwas Mangelhafteres als den
Glauben, das deutsche Publicum wolle, könne, werde einen deutschen
Roman mit Interesse lesen? Immer vorausgesetzt, daß er nicht von den
Baumeisterinnen der Schlösser Godwie und Gocyn herrühre?
'

Mit der Ludwig Tieckschen Victoria Accorombona ist es eine Aus¬
nahme. Erstlich ist es eine amplisicirte Uebersetzung und lockt durch den
schlechten Styl und -- schmeichelt euch nicht, ich hatte vergessen, daß
dieser denkwürdige Roman einen allerhöchsten Recensenten gefunden hat?

Fragt ihr das Publicum, ob es das letzterschienene Geklatsch der
Dame Blcssington gelesen habe? so wird es vor Unwillen erröthen und
mit der eisigen Kalte eines verkannten Publicums bemerken, daß es seit
Menschengedenken für "gebildet" gelte und daß es h o es gebildet geworden,
seit es sich durch Autopsie der Henriette Hänke und der Caroline Schulz
weibliches Zartgefühl und Frauenwürde angeeignet.

Fragt ihr hingegen, ob das Publicum das "Kajütenbuch" gelesen
habe? es wird antworten, die Kritiken hätte es gelesen und ohne
Ausnahme bewundert; die Deutschen seien eine vielschreibcnde Nation;
man habe Besseres zu thun, wie deutsche Romane zu lesen, die Rich¬
tung der Zeit sei politisch-religiös und die Herren Vieweg und Sohn in
Braunschweig seien im Begriff, einen neuen Weiberroman zu versenden,
den man lesen müsse, wenn man mit den Theekränzchen gleichen Schritt
halten und beim jüngsten Gericht des (5otillon nicht verstummen wolle.

Dagegen laßt sich nichts einwenden. Das Kajütenbuch behandelt freilich
die Freiheitskämpfe der Teraner -- es entwickelt freilich die originellsten
politischen Ansichten und verfolgt die socialen Probleme mit einer selten
zu findenden Tiefe und Kühnheit -- aber -- eS weiß nichts von Norge
-- nichts von den schwarzwälder Bauern, -- nichts von den Brüdern
Flamandern, nichts von dein sächsischen und schlesischen Adel. Selbst
die befreiende Theorie der protestantischen Lichtfreunde ist ihm ganzlich
fremd. Fast möchte ich versichern, daß eS nicht einmal den "Briefwech¬
sel eines staatsgefangenen" gelesen hat!"

Ist das nicht das "gebildete Publicum?


Otto von Wenkenstern.
II.
Aus Dresden.

Die Stadtverordneten- -- Miinstenvcchsel. -- Die Schrift.- "Dresden und die
Dresdner". -- Gemäldeausstellung. -- Theater. -- Neißiger'S neue Oper.--

Während der Abwesenheit unsrer Landstände führen wir hier ein
sehr calmirtes Leben, höchstens erhitzt man sich über einen Eclat in der
Stadtverordnetenversammlung, wie deren neulich einer von in der That
komischer Neuheit vorgekommen ist. Noch immer schwankte nämlich die
Frage, ob man die städtische Gerichtsbarkeit an den Staat abtreten solle
oder nicht; Majorität und Minorität hatten darüber in verschiedenen


nisse einer deutschen Feder? Und gibt es etwas Mangelhafteres als den
Glauben, das deutsche Publicum wolle, könne, werde einen deutschen
Roman mit Interesse lesen? Immer vorausgesetzt, daß er nicht von den
Baumeisterinnen der Schlösser Godwie und Gocyn herrühre?
'

Mit der Ludwig Tieckschen Victoria Accorombona ist es eine Aus¬
nahme. Erstlich ist es eine amplisicirte Uebersetzung und lockt durch den
schlechten Styl und — schmeichelt euch nicht, ich hatte vergessen, daß
dieser denkwürdige Roman einen allerhöchsten Recensenten gefunden hat?

Fragt ihr das Publicum, ob es das letzterschienene Geklatsch der
Dame Blcssington gelesen habe? so wird es vor Unwillen erröthen und
mit der eisigen Kalte eines verkannten Publicums bemerken, daß es seit
Menschengedenken für „gebildet" gelte und daß es h o es gebildet geworden,
seit es sich durch Autopsie der Henriette Hänke und der Caroline Schulz
weibliches Zartgefühl und Frauenwürde angeeignet.

Fragt ihr hingegen, ob das Publicum das „Kajütenbuch" gelesen
habe? es wird antworten, die Kritiken hätte es gelesen und ohne
Ausnahme bewundert; die Deutschen seien eine vielschreibcnde Nation;
man habe Besseres zu thun, wie deutsche Romane zu lesen, die Rich¬
tung der Zeit sei politisch-religiös und die Herren Vieweg und Sohn in
Braunschweig seien im Begriff, einen neuen Weiberroman zu versenden,
den man lesen müsse, wenn man mit den Theekränzchen gleichen Schritt
halten und beim jüngsten Gericht des (5otillon nicht verstummen wolle.

Dagegen laßt sich nichts einwenden. Das Kajütenbuch behandelt freilich
die Freiheitskämpfe der Teraner — es entwickelt freilich die originellsten
politischen Ansichten und verfolgt die socialen Probleme mit einer selten
zu findenden Tiefe und Kühnheit — aber — eS weiß nichts von Norge
— nichts von den schwarzwälder Bauern, — nichts von den Brüdern
Flamandern, nichts von dein sächsischen und schlesischen Adel. Selbst
die befreiende Theorie der protestantischen Lichtfreunde ist ihm ganzlich
fremd. Fast möchte ich versichern, daß eS nicht einmal den „Briefwech¬
sel eines staatsgefangenen" gelesen hat!"

Ist das nicht das „gebildete Publicum?


Otto von Wenkenstern.
II.
Aus Dresden.

Die Stadtverordneten- — Miinstenvcchsel. — Die Schrift.- „Dresden und die
Dresdner". — Gemäldeausstellung. — Theater. — Neißiger'S neue Oper.—

Während der Abwesenheit unsrer Landstände führen wir hier ein
sehr calmirtes Leben, höchstens erhitzt man sich über einen Eclat in der
Stadtverordnetenversammlung, wie deren neulich einer von in der That
komischer Neuheit vorgekommen ist. Noch immer schwankte nämlich die
Frage, ob man die städtische Gerichtsbarkeit an den Staat abtreten solle
oder nicht; Majorität und Minorität hatten darüber in verschiedenen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0356" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/183377"/>
            <p xml:id="ID_1059" prev="#ID_1058"> nisse einer deutschen Feder? Und gibt es etwas Mangelhafteres als den<lb/>
Glauben, das deutsche Publicum wolle, könne, werde einen deutschen<lb/>
Roman mit Interesse lesen? Immer vorausgesetzt, daß er nicht von den<lb/>
Baumeisterinnen der Schlösser Godwie und Gocyn herrühre?<lb/>
'</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1060"> Mit der Ludwig Tieckschen Victoria Accorombona ist es eine Aus¬<lb/>
nahme. Erstlich ist es eine amplisicirte Uebersetzung und lockt durch den<lb/>
schlechten Styl und &#x2014; schmeichelt euch nicht, ich hatte vergessen, daß<lb/>
dieser denkwürdige Roman einen allerhöchsten Recensenten gefunden hat?</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1061"> Fragt ihr das Publicum, ob es das letzterschienene Geklatsch der<lb/>
Dame Blcssington gelesen habe? so wird es vor Unwillen erröthen und<lb/>
mit der eisigen Kalte eines verkannten Publicums bemerken, daß es seit<lb/>
Menschengedenken für &#x201E;gebildet" gelte und daß es h o es gebildet geworden,<lb/>
seit es sich durch Autopsie der Henriette Hänke und der Caroline Schulz<lb/>
weibliches Zartgefühl und Frauenwürde angeeignet.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1062"> Fragt ihr hingegen, ob das Publicum das &#x201E;Kajütenbuch" gelesen<lb/>
habe? es wird antworten, die Kritiken hätte es gelesen und ohne<lb/>
Ausnahme bewundert; die Deutschen seien eine vielschreibcnde Nation;<lb/>
man habe Besseres zu thun, wie deutsche Romane zu lesen, die Rich¬<lb/>
tung der Zeit sei politisch-religiös und die Herren Vieweg und Sohn in<lb/>
Braunschweig seien im Begriff, einen neuen Weiberroman zu versenden,<lb/>
den man lesen müsse, wenn man mit den Theekränzchen gleichen Schritt<lb/>
halten und beim jüngsten Gericht des (5otillon nicht verstummen wolle.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1063"> Dagegen laßt sich nichts einwenden. Das Kajütenbuch behandelt freilich<lb/>
die Freiheitskämpfe der Teraner &#x2014; es entwickelt freilich die originellsten<lb/>
politischen Ansichten und verfolgt die socialen Probleme mit einer selten<lb/>
zu findenden Tiefe und Kühnheit &#x2014; aber &#x2014; eS weiß nichts von Norge<lb/>
&#x2014; nichts von den schwarzwälder Bauern, &#x2014; nichts von den Brüdern<lb/>
Flamandern, nichts von dein sächsischen und schlesischen Adel. Selbst<lb/>
die befreiende Theorie der protestantischen Lichtfreunde ist ihm ganzlich<lb/>
fremd. Fast möchte ich versichern, daß eS nicht einmal den &#x201E;Briefwech¬<lb/>
sel eines staatsgefangenen" gelesen hat!"</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1064"> Ist das nicht das &#x201E;gebildete Publicum?</p><lb/>
            <note type="byline"> Otto von Wenkenstern.</note><lb/>
          </div>
          <div n="2">
            <head> II.<lb/>
Aus Dresden.</head><lb/>
            <note type="argument"> Die Stadtverordneten- &#x2014; Miinstenvcchsel. &#x2014; Die Schrift.- &#x201E;Dresden und die<lb/>
Dresdner". &#x2014; Gemäldeausstellung. &#x2014; Theater. &#x2014; Neißiger'S neue Oper.&#x2014;</note><lb/>
            <p xml:id="ID_1065" next="#ID_1066"> Während der Abwesenheit unsrer Landstände führen wir hier ein<lb/>
sehr calmirtes Leben, höchstens erhitzt man sich über einen Eclat in der<lb/>
Stadtverordnetenversammlung, wie deren neulich einer von in der That<lb/>
komischer Neuheit vorgekommen ist. Noch immer schwankte nämlich die<lb/>
Frage, ob man die städtische Gerichtsbarkeit an den Staat abtreten solle<lb/>
oder nicht; Majorität und Minorität hatten darüber in verschiedenen</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0356] nisse einer deutschen Feder? Und gibt es etwas Mangelhafteres als den Glauben, das deutsche Publicum wolle, könne, werde einen deutschen Roman mit Interesse lesen? Immer vorausgesetzt, daß er nicht von den Baumeisterinnen der Schlösser Godwie und Gocyn herrühre? ' Mit der Ludwig Tieckschen Victoria Accorombona ist es eine Aus¬ nahme. Erstlich ist es eine amplisicirte Uebersetzung und lockt durch den schlechten Styl und — schmeichelt euch nicht, ich hatte vergessen, daß dieser denkwürdige Roman einen allerhöchsten Recensenten gefunden hat? Fragt ihr das Publicum, ob es das letzterschienene Geklatsch der Dame Blcssington gelesen habe? so wird es vor Unwillen erröthen und mit der eisigen Kalte eines verkannten Publicums bemerken, daß es seit Menschengedenken für „gebildet" gelte und daß es h o es gebildet geworden, seit es sich durch Autopsie der Henriette Hänke und der Caroline Schulz weibliches Zartgefühl und Frauenwürde angeeignet. Fragt ihr hingegen, ob das Publicum das „Kajütenbuch" gelesen habe? es wird antworten, die Kritiken hätte es gelesen und ohne Ausnahme bewundert; die Deutschen seien eine vielschreibcnde Nation; man habe Besseres zu thun, wie deutsche Romane zu lesen, die Rich¬ tung der Zeit sei politisch-religiös und die Herren Vieweg und Sohn in Braunschweig seien im Begriff, einen neuen Weiberroman zu versenden, den man lesen müsse, wenn man mit den Theekränzchen gleichen Schritt halten und beim jüngsten Gericht des (5otillon nicht verstummen wolle. Dagegen laßt sich nichts einwenden. Das Kajütenbuch behandelt freilich die Freiheitskämpfe der Teraner — es entwickelt freilich die originellsten politischen Ansichten und verfolgt die socialen Probleme mit einer selten zu findenden Tiefe und Kühnheit — aber — eS weiß nichts von Norge — nichts von den schwarzwälder Bauern, — nichts von den Brüdern Flamandern, nichts von dein sächsischen und schlesischen Adel. Selbst die befreiende Theorie der protestantischen Lichtfreunde ist ihm ganzlich fremd. Fast möchte ich versichern, daß eS nicht einmal den „Briefwech¬ sel eines staatsgefangenen" gelesen hat!" Ist das nicht das „gebildete Publicum? Otto von Wenkenstern. II. Aus Dresden. Die Stadtverordneten- — Miinstenvcchsel. — Die Schrift.- „Dresden und die Dresdner". — Gemäldeausstellung. — Theater. — Neißiger'S neue Oper.— Während der Abwesenheit unsrer Landstände führen wir hier ein sehr calmirtes Leben, höchstens erhitzt man sich über einen Eclat in der Stadtverordnetenversammlung, wie deren neulich einer von in der That komischer Neuheit vorgekommen ist. Noch immer schwankte nämlich die Frage, ob man die städtische Gerichtsbarkeit an den Staat abtreten solle oder nicht; Majorität und Minorität hatten darüber in verschiedenen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/356
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/356>, abgerufen am 24.07.2024.