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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.

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Sociale Skizzen aus Doris
Aus einem Tagebuch.



Je mehr ich von den Pariser Notabilitäten kennen lerne, desto mehr
bestätigen sich zwei Ueberzeugungen in mir, die eine, daß es oct-'r
die wahre Charaktergröße, noch das wahrhaft produktive Talent ist,
welches heut zu Tage zu Ruhm und Ehre fördert, andrerseits jedoch die
Ueberzeugung, daß wir wahren Ueberfluß an eminenten (Kapacitäten be-
sitzen,und daß es der größte Unsinn ist, unsrer Zeit das Genie abspre¬
chen zu wollen. Vielleicht hatte uoch keine Zeit so viel Kräfte und
Fähigkeiten beisammen, aber es gibt Zeiten, in welchen es Thorheit
ist, von den großen Geistern die Rettung zu erwarten, in welchen die
Talente sogar oft überflüssig sind. Die Talente der französischen Revo¬
lution sind fast alle erst aus den Begebenheiten aufgetaucht, die Talente
unserer Zeit zersplittern sich an der Verkettung der Umstände. Die heitere
Ansicht der pantheistischen Geschichts-Philosophie, welche in praxi leicht in
den indolentesten Fatalismus umschlägt, daß jedes Genie nothwendig sein
Ziel erreiche, findet bei dem unbefangenen Beobachter tagtäglich Wi¬
derspruch. Wie käme es denn, daß das plötzlich auftauchende, politische
Bedürfniß meistens Kräfte im Ueberfluß vorfindet, daß hingegen Tau¬
sende wieder auf dem Wahlplatz der Politik verbluten für eine gute
Sache, welche die Gerechtigkeit vielleicht krönt, die Geschichte aber verwirft?!
Wiederum mag auch manche große Zeit ein kleines Geschlecht gefunden
haben.-- Die Frage ist hundert Mal aufgeworfen worden, ob die be¬
deutenden Menschen ihre Zeit machen, oder ob die Ereignisse dem Men¬
schen erst ihre Bedeutung verleihen. Die kurzsichtige Geschichtsphilo¬
sophie, welche weiter nichts ist, als eine Paraphrase des Phantoms


NrenzVotm. M. 4Z
Sociale Skizzen aus Doris
Aus einem Tagebuch.



Je mehr ich von den Pariser Notabilitäten kennen lerne, desto mehr
bestätigen sich zwei Ueberzeugungen in mir, die eine, daß es oct-'r
die wahre Charaktergröße, noch das wahrhaft produktive Talent ist,
welches heut zu Tage zu Ruhm und Ehre fördert, andrerseits jedoch die
Ueberzeugung, daß wir wahren Ueberfluß an eminenten (Kapacitäten be-
sitzen,und daß es der größte Unsinn ist, unsrer Zeit das Genie abspre¬
chen zu wollen. Vielleicht hatte uoch keine Zeit so viel Kräfte und
Fähigkeiten beisammen, aber es gibt Zeiten, in welchen es Thorheit
ist, von den großen Geistern die Rettung zu erwarten, in welchen die
Talente sogar oft überflüssig sind. Die Talente der französischen Revo¬
lution sind fast alle erst aus den Begebenheiten aufgetaucht, die Talente
unserer Zeit zersplittern sich an der Verkettung der Umstände. Die heitere
Ansicht der pantheistischen Geschichts-Philosophie, welche in praxi leicht in
den indolentesten Fatalismus umschlägt, daß jedes Genie nothwendig sein
Ziel erreiche, findet bei dem unbefangenen Beobachter tagtäglich Wi¬
derspruch. Wie käme es denn, daß das plötzlich auftauchende, politische
Bedürfniß meistens Kräfte im Ueberfluß vorfindet, daß hingegen Tau¬
sende wieder auf dem Wahlplatz der Politik verbluten für eine gute
Sache, welche die Gerechtigkeit vielleicht krönt, die Geschichte aber verwirft?!
Wiederum mag auch manche große Zeit ein kleines Geschlecht gefunden
haben.— Die Frage ist hundert Mal aufgeworfen worden, ob die be¬
deutenden Menschen ihre Zeit machen, oder ob die Ereignisse dem Men¬
schen erst ihre Bedeutung verleihen. Die kurzsichtige Geschichtsphilo¬
sophie, welche weiter nichts ist, als eine Paraphrase des Phantoms


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[0325] Sociale Skizzen aus Doris Aus einem Tagebuch. Je mehr ich von den Pariser Notabilitäten kennen lerne, desto mehr bestätigen sich zwei Ueberzeugungen in mir, die eine, daß es oct-'r die wahre Charaktergröße, noch das wahrhaft produktive Talent ist, welches heut zu Tage zu Ruhm und Ehre fördert, andrerseits jedoch die Ueberzeugung, daß wir wahren Ueberfluß an eminenten (Kapacitäten be- sitzen,und daß es der größte Unsinn ist, unsrer Zeit das Genie abspre¬ chen zu wollen. Vielleicht hatte uoch keine Zeit so viel Kräfte und Fähigkeiten beisammen, aber es gibt Zeiten, in welchen es Thorheit ist, von den großen Geistern die Rettung zu erwarten, in welchen die Talente sogar oft überflüssig sind. Die Talente der französischen Revo¬ lution sind fast alle erst aus den Begebenheiten aufgetaucht, die Talente unserer Zeit zersplittern sich an der Verkettung der Umstände. Die heitere Ansicht der pantheistischen Geschichts-Philosophie, welche in praxi leicht in den indolentesten Fatalismus umschlägt, daß jedes Genie nothwendig sein Ziel erreiche, findet bei dem unbefangenen Beobachter tagtäglich Wi¬ derspruch. Wie käme es denn, daß das plötzlich auftauchende, politische Bedürfniß meistens Kräfte im Ueberfluß vorfindet, daß hingegen Tau¬ sende wieder auf dem Wahlplatz der Politik verbluten für eine gute Sache, welche die Gerechtigkeit vielleicht krönt, die Geschichte aber verwirft?! Wiederum mag auch manche große Zeit ein kleines Geschlecht gefunden haben.— Die Frage ist hundert Mal aufgeworfen worden, ob die be¬ deutenden Menschen ihre Zeit machen, oder ob die Ereignisse dem Men¬ schen erst ihre Bedeutung verleihen. Die kurzsichtige Geschichtsphilo¬ sophie, welche weiter nichts ist, als eine Paraphrase des Phantoms NrenzVotm. M. 4Z

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/325>, abgerufen am 05.07.2024.