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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.

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Grundgedanken des Socialismus dadurch näherten, daß sie die Ge¬
werbefreiheit in ein "industrielles Gemeinwesen" übergehen lassen und
die "geistige Anarchie" durch eine neue "rein humanistische" Religion
bewältigen möchten; die Mehrzahl jedoch glaubt nur an eine mittel¬
bare Minderung der Armuth und sucht, da sie den Grundursachen der
Armuth nicht recht beikommen kann, sich mit den secundairen und ge¬
selligen Gelegenheitsursachen der Armuth- zu beschäftigen und durch
Spargesellschaften, Spar- und Prämiencassen,. durch eine verbesserte
Armenpflege u. f. w. zu wirken.

Eine solche Behandlung der Armuth war im Durchschnitt der
Zweck des vor einem Jahre vielfach besprochenen Vereines für das
Wohl der arbeitenden Classen, obgleich sich auch restaurationssüchtige
und socialistische Tendenzen in ihm geltend zu machen suchten. Er
nannte die heutige Armuth ganz bestimmt ein "Resultat unserer soci¬
alen Zustände" und wenn auch zum Theil von dein Verein das Heil
erwartet wurde, so glaubte man doch vielfach -- und das war das liberale
Moment -- die gründliche Hilfe vom Staate und seinen Veranstal¬
tungen erwarten zu müssen. Seitdem ist die Vereinsbildung eben
durch den Staat wieder zum Stillstande gebracht, es fragt sich aber,
ob ohne diese äußere Hemmung der Liberalismus in den Vereinen wohl
jenen großen Zweck, von dem er so viel redete, hätte ermöglichen können.

Unsere gemäßigten Liberalen erwarteten mehr vom Staate und
als dem Hauptorgane desselben, mehr von der Beihilfe der Regierung,
als von dem Vereine ; die Ultraliberalen glaubten durch den Verein
eine selbständige Kraft, ein Stück 8Lik-Me>v;r"vmvut zu erzielen, wel¬
ches sich in die bestehenden Staatsverhältnisse "einwurzeln" und un¬
umgänglich mächtig werden sollte. Die ersten sind durch das Ein¬
schreiten der Regierung in ihrem Grundsatze geschlagen worden, die
zweiten nur in ihrem Erfolg. Aber auch ihr Erfolg hätte ohne die
Regierungshemmnisse kaum ihren Worten, ihren Voraussagungen und
Programmeil entsprechender sein können, da sie sich nicht im Stande
zeigten, die Lage der Gesellschaft gründlich zu untersuchen, die Grund-
quellen der Armuth zu erforschen, da sie die Mittel vergriffen und über¬
schätzten und meinten, daß die große Frage dnrch eine Art neuen Ver¬
waltungssystems erledigt werden könne. Der Liberalismus muß an der
Armuthsfrage seine Unfähigkeit beweisen, er kannte den Boden nicht,
auf welchem er sich bewegen wollte, er wird ihn nicht kennen lernen,
da er die Verhältnisse und Resultate der Armuth immer nur "stück-
weise" ansieht. Er kennt den Conflict nicht, dessen Lösung es gilt,


Grundgedanken des Socialismus dadurch näherten, daß sie die Ge¬
werbefreiheit in ein „industrielles Gemeinwesen" übergehen lassen und
die „geistige Anarchie" durch eine neue „rein humanistische" Religion
bewältigen möchten; die Mehrzahl jedoch glaubt nur an eine mittel¬
bare Minderung der Armuth und sucht, da sie den Grundursachen der
Armuth nicht recht beikommen kann, sich mit den secundairen und ge¬
selligen Gelegenheitsursachen der Armuth- zu beschäftigen und durch
Spargesellschaften, Spar- und Prämiencassen,. durch eine verbesserte
Armenpflege u. f. w. zu wirken.

Eine solche Behandlung der Armuth war im Durchschnitt der
Zweck des vor einem Jahre vielfach besprochenen Vereines für das
Wohl der arbeitenden Classen, obgleich sich auch restaurationssüchtige
und socialistische Tendenzen in ihm geltend zu machen suchten. Er
nannte die heutige Armuth ganz bestimmt ein „Resultat unserer soci¬
alen Zustände" und wenn auch zum Theil von dein Verein das Heil
erwartet wurde, so glaubte man doch vielfach — und das war das liberale
Moment — die gründliche Hilfe vom Staate und seinen Veranstal¬
tungen erwarten zu müssen. Seitdem ist die Vereinsbildung eben
durch den Staat wieder zum Stillstande gebracht, es fragt sich aber,
ob ohne diese äußere Hemmung der Liberalismus in den Vereinen wohl
jenen großen Zweck, von dem er so viel redete, hätte ermöglichen können.

Unsere gemäßigten Liberalen erwarteten mehr vom Staate und
als dem Hauptorgane desselben, mehr von der Beihilfe der Regierung,
als von dem Vereine ; die Ultraliberalen glaubten durch den Verein
eine selbständige Kraft, ein Stück 8Lik-Me>v;r»vmvut zu erzielen, wel¬
ches sich in die bestehenden Staatsverhältnisse „einwurzeln" und un¬
umgänglich mächtig werden sollte. Die ersten sind durch das Ein¬
schreiten der Regierung in ihrem Grundsatze geschlagen worden, die
zweiten nur in ihrem Erfolg. Aber auch ihr Erfolg hätte ohne die
Regierungshemmnisse kaum ihren Worten, ihren Voraussagungen und
Programmeil entsprechender sein können, da sie sich nicht im Stande
zeigten, die Lage der Gesellschaft gründlich zu untersuchen, die Grund-
quellen der Armuth zu erforschen, da sie die Mittel vergriffen und über¬
schätzten und meinten, daß die große Frage dnrch eine Art neuen Ver¬
waltungssystems erledigt werden könne. Der Liberalismus muß an der
Armuthsfrage seine Unfähigkeit beweisen, er kannte den Boden nicht,
auf welchem er sich bewegen wollte, er wird ihn nicht kennen lernen,
da er die Verhältnisse und Resultate der Armuth immer nur „stück-
weise" ansieht. Er kennt den Conflict nicht, dessen Lösung es gilt,


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[0290] Grundgedanken des Socialismus dadurch näherten, daß sie die Ge¬ werbefreiheit in ein „industrielles Gemeinwesen" übergehen lassen und die „geistige Anarchie" durch eine neue „rein humanistische" Religion bewältigen möchten; die Mehrzahl jedoch glaubt nur an eine mittel¬ bare Minderung der Armuth und sucht, da sie den Grundursachen der Armuth nicht recht beikommen kann, sich mit den secundairen und ge¬ selligen Gelegenheitsursachen der Armuth- zu beschäftigen und durch Spargesellschaften, Spar- und Prämiencassen,. durch eine verbesserte Armenpflege u. f. w. zu wirken. Eine solche Behandlung der Armuth war im Durchschnitt der Zweck des vor einem Jahre vielfach besprochenen Vereines für das Wohl der arbeitenden Classen, obgleich sich auch restaurationssüchtige und socialistische Tendenzen in ihm geltend zu machen suchten. Er nannte die heutige Armuth ganz bestimmt ein „Resultat unserer soci¬ alen Zustände" und wenn auch zum Theil von dein Verein das Heil erwartet wurde, so glaubte man doch vielfach — und das war das liberale Moment — die gründliche Hilfe vom Staate und seinen Veranstal¬ tungen erwarten zu müssen. Seitdem ist die Vereinsbildung eben durch den Staat wieder zum Stillstande gebracht, es fragt sich aber, ob ohne diese äußere Hemmung der Liberalismus in den Vereinen wohl jenen großen Zweck, von dem er so viel redete, hätte ermöglichen können. Unsere gemäßigten Liberalen erwarteten mehr vom Staate und als dem Hauptorgane desselben, mehr von der Beihilfe der Regierung, als von dem Vereine ; die Ultraliberalen glaubten durch den Verein eine selbständige Kraft, ein Stück 8Lik-Me>v;r»vmvut zu erzielen, wel¬ ches sich in die bestehenden Staatsverhältnisse „einwurzeln" und un¬ umgänglich mächtig werden sollte. Die ersten sind durch das Ein¬ schreiten der Regierung in ihrem Grundsatze geschlagen worden, die zweiten nur in ihrem Erfolg. Aber auch ihr Erfolg hätte ohne die Regierungshemmnisse kaum ihren Worten, ihren Voraussagungen und Programmeil entsprechender sein können, da sie sich nicht im Stande zeigten, die Lage der Gesellschaft gründlich zu untersuchen, die Grund- quellen der Armuth zu erforschen, da sie die Mittel vergriffen und über¬ schätzten und meinten, daß die große Frage dnrch eine Art neuen Ver¬ waltungssystems erledigt werden könne. Der Liberalismus muß an der Armuthsfrage seine Unfähigkeit beweisen, er kannte den Boden nicht, auf welchem er sich bewegen wollte, er wird ihn nicht kennen lernen, da er die Verhältnisse und Resultate der Armuth immer nur „stück- weise" ansieht. Er kennt den Conflict nicht, dessen Lösung es gilt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/290>, abgerufen am 24.07.2024.