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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.

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tigkeit Gervinus' und der engherzigen Tyrannei der hallischen Jahr¬
bücher ist Raum für eine einsichtsvolle und freisinnige Kritik. Unter
den Kritikern von Ruf, die nicht unter dem Banner einer Schule
kämpfen, sind einige, denen eine größere Wirksamkeit zu wünschen
wäre. Herr Levin Schücking ist ein distinguirter Geist, der es ver.
steht, sich den Gehalt eines Buches anzueignen und zu analvsiren.
Seine verschiedenen Arbeiten in der Poesie und im NoMan sind nicht
ohne Werth; sie haben seinem Geist eine glückliche Geschmeidigkeit ge¬
geben, von der die Kritik, die sein wahrer Beruf zu sein scheint, gewiß
Nutzen ziehen wird. Besonders möchte ich Herrn Gustav Kühne eine
zunehmende Autorität wünschen. Es ist dies ein vorzüglicher Schrift¬
steller, eine ächt kritische Natur, mit ausgezeichneten Fähigkeiten begabt,
treu der guten Tradition und doch voll Liebe und Verständniß für
feine Zeit. Er besitzt Enthusiasmus, Geschmack und jenen feinen Takt,
der nur zu oft in Deutschland sich vermissen läßt; was ihm fehlt, ist
die Kraft und Entschiedenheit (?). Diese muß er sich noch aneignen,
und dann steht ihm eine bedeutende Rolle bevor. Andere tüchtig vor¬
bereitete Geister, Hermann Margraff, Marbach, Heinrich König, kön¬
nen ihn hierbei unterstützen. Worauf sie jetzt mehr als je dringen
müßten, das ist die Achtung vor jenen Ueberlieferungen, die in der
gegenwärtigen Gährung so bedroht sind. Sie müßten die Dichter an
die erste Bedingung, die ihnen vorgeschrieben ist, erinnern; sie müßten
sie vor den Nachahmungen der Fremden warnen und ihnen die Treue
gegen den Nationalcharakter zur Pflicht machen. Wenn es gut ist,
daß das politische Deutschland seine Blicke auf die freien Länder wen¬
det und von ihnen Belehrungen für die Reformen sticht, womit eS
beschäftigt ist, so darf es darum nicht alle seine Erinnerungen ohne
Unterschied wegwerfen, und am wenigsten muß es uns für seine Ro¬
mane oder Gedichte die socialistischen Deklamationen oder den Schlen¬
drian einer mittelmäßigen Literatur entlehnen. Grade in den Momen¬
ten der Krise, des Uebergangs ist es, wo die Kritik wahrhaft nützlich
ist und wo die Dialektik der Rathgeber der Phantasie der Erfinder zu
Hilfe kommen muß. Herr Wienbarg hatte dies vor zehn Jahren in
seinen "ästhetischen Feldzügen" geahnt; da er zu schnell den Muth
verloren, so müssen Andere sein Werk fortsetzen.

Daß aus dieser Verschmelzung des Nationalcharakters mit dem
Bewußtsein der neuern Zeit originelle Erzeugnisse hervorgehen können,
zeigt eine Sammlung von Erzählungen, über die ich mich freue be¬
richten zu können: Die Schwarzwälder Dorfgeschichten von Berthold


tigkeit Gervinus' und der engherzigen Tyrannei der hallischen Jahr¬
bücher ist Raum für eine einsichtsvolle und freisinnige Kritik. Unter
den Kritikern von Ruf, die nicht unter dem Banner einer Schule
kämpfen, sind einige, denen eine größere Wirksamkeit zu wünschen
wäre. Herr Levin Schücking ist ein distinguirter Geist, der es ver.
steht, sich den Gehalt eines Buches anzueignen und zu analvsiren.
Seine verschiedenen Arbeiten in der Poesie und im NoMan sind nicht
ohne Werth; sie haben seinem Geist eine glückliche Geschmeidigkeit ge¬
geben, von der die Kritik, die sein wahrer Beruf zu sein scheint, gewiß
Nutzen ziehen wird. Besonders möchte ich Herrn Gustav Kühne eine
zunehmende Autorität wünschen. Es ist dies ein vorzüglicher Schrift¬
steller, eine ächt kritische Natur, mit ausgezeichneten Fähigkeiten begabt,
treu der guten Tradition und doch voll Liebe und Verständniß für
feine Zeit. Er besitzt Enthusiasmus, Geschmack und jenen feinen Takt,
der nur zu oft in Deutschland sich vermissen läßt; was ihm fehlt, ist
die Kraft und Entschiedenheit (?). Diese muß er sich noch aneignen,
und dann steht ihm eine bedeutende Rolle bevor. Andere tüchtig vor¬
bereitete Geister, Hermann Margraff, Marbach, Heinrich König, kön¬
nen ihn hierbei unterstützen. Worauf sie jetzt mehr als je dringen
müßten, das ist die Achtung vor jenen Ueberlieferungen, die in der
gegenwärtigen Gährung so bedroht sind. Sie müßten die Dichter an
die erste Bedingung, die ihnen vorgeschrieben ist, erinnern; sie müßten
sie vor den Nachahmungen der Fremden warnen und ihnen die Treue
gegen den Nationalcharakter zur Pflicht machen. Wenn es gut ist,
daß das politische Deutschland seine Blicke auf die freien Länder wen¬
det und von ihnen Belehrungen für die Reformen sticht, womit eS
beschäftigt ist, so darf es darum nicht alle seine Erinnerungen ohne
Unterschied wegwerfen, und am wenigsten muß es uns für seine Ro¬
mane oder Gedichte die socialistischen Deklamationen oder den Schlen¬
drian einer mittelmäßigen Literatur entlehnen. Grade in den Momen¬
ten der Krise, des Uebergangs ist es, wo die Kritik wahrhaft nützlich
ist und wo die Dialektik der Rathgeber der Phantasie der Erfinder zu
Hilfe kommen muß. Herr Wienbarg hatte dies vor zehn Jahren in
seinen „ästhetischen Feldzügen" geahnt; da er zu schnell den Muth
verloren, so müssen Andere sein Werk fortsetzen.

Daß aus dieser Verschmelzung des Nationalcharakters mit dem
Bewußtsein der neuern Zeit originelle Erzeugnisse hervorgehen können,
zeigt eine Sammlung von Erzählungen, über die ich mich freue be¬
richten zu können: Die Schwarzwälder Dorfgeschichten von Berthold


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[0029] tigkeit Gervinus' und der engherzigen Tyrannei der hallischen Jahr¬ bücher ist Raum für eine einsichtsvolle und freisinnige Kritik. Unter den Kritikern von Ruf, die nicht unter dem Banner einer Schule kämpfen, sind einige, denen eine größere Wirksamkeit zu wünschen wäre. Herr Levin Schücking ist ein distinguirter Geist, der es ver. steht, sich den Gehalt eines Buches anzueignen und zu analvsiren. Seine verschiedenen Arbeiten in der Poesie und im NoMan sind nicht ohne Werth; sie haben seinem Geist eine glückliche Geschmeidigkeit ge¬ geben, von der die Kritik, die sein wahrer Beruf zu sein scheint, gewiß Nutzen ziehen wird. Besonders möchte ich Herrn Gustav Kühne eine zunehmende Autorität wünschen. Es ist dies ein vorzüglicher Schrift¬ steller, eine ächt kritische Natur, mit ausgezeichneten Fähigkeiten begabt, treu der guten Tradition und doch voll Liebe und Verständniß für feine Zeit. Er besitzt Enthusiasmus, Geschmack und jenen feinen Takt, der nur zu oft in Deutschland sich vermissen läßt; was ihm fehlt, ist die Kraft und Entschiedenheit (?). Diese muß er sich noch aneignen, und dann steht ihm eine bedeutende Rolle bevor. Andere tüchtig vor¬ bereitete Geister, Hermann Margraff, Marbach, Heinrich König, kön¬ nen ihn hierbei unterstützen. Worauf sie jetzt mehr als je dringen müßten, das ist die Achtung vor jenen Ueberlieferungen, die in der gegenwärtigen Gährung so bedroht sind. Sie müßten die Dichter an die erste Bedingung, die ihnen vorgeschrieben ist, erinnern; sie müßten sie vor den Nachahmungen der Fremden warnen und ihnen die Treue gegen den Nationalcharakter zur Pflicht machen. Wenn es gut ist, daß das politische Deutschland seine Blicke auf die freien Länder wen¬ det und von ihnen Belehrungen für die Reformen sticht, womit eS beschäftigt ist, so darf es darum nicht alle seine Erinnerungen ohne Unterschied wegwerfen, und am wenigsten muß es uns für seine Ro¬ mane oder Gedichte die socialistischen Deklamationen oder den Schlen¬ drian einer mittelmäßigen Literatur entlehnen. Grade in den Momen¬ ten der Krise, des Uebergangs ist es, wo die Kritik wahrhaft nützlich ist und wo die Dialektik der Rathgeber der Phantasie der Erfinder zu Hilfe kommen muß. Herr Wienbarg hatte dies vor zehn Jahren in seinen „ästhetischen Feldzügen" geahnt; da er zu schnell den Muth verloren, so müssen Andere sein Werk fortsetzen. Daß aus dieser Verschmelzung des Nationalcharakters mit dem Bewußtsein der neuern Zeit originelle Erzeugnisse hervorgehen können, zeigt eine Sammlung von Erzählungen, über die ich mich freue be¬ richten zu können: Die Schwarzwälder Dorfgeschichten von Berthold

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/29>, abgerufen am 24.07.2024.