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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.

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sich etwas von Malthus geltend. Nach unser" Malthusianern wiegt
sich der Reiche im Besitz auf dem keuchenden Rücken des Armen, das
soll der Wille der "Vorsehung", das die naturgemäße Organisation
der Menschheit sein. Der Geldmensch betrachtet sich als lentin; ":onsmnvr"
truKSL, die Masse ist nur dafür da, sich seinetwegen zu mühen und
zu darben. Wenn diese Ansicht auch nicht allzuviele theoretische An¬
hänger und Vertheidiger unter uns findet, so kann man doch nicht
umhin, zu bemerken, daß sie bei uns im praktischen Leben ganz gang
und gäbe ist und wir können es täglich sehen, wie der Reichthum die
mühsamen Erwerbnisse der Armuth dahin nimmt, als ob er dazu von
der "Vorsehung" berufen sei, als ob es gar nicht anders sein und
werden könne. Dieser Jndifferentismus deö Reichthums höhnt die
Armuth ebenso sehr, wenn auch größtentheils unbewußt, wie jene
Theorie der Armuth ihre höhern Berechtigungen gradewegs leugnet
und die Armen als Sklaven, als den immerdar verfluchten "Grund¬
stand der Gesellschaft" betrachtet. Nach dieser Theorie hört der Mensch
auf, ein freies, sittliches Wesen zu sein und er sinkt zum Naturpro-
ducte herunter, auf eine entgeiftete Stufe, wo die rohe Gewalt der
Stärke zur Berechtigung über alle schwächern Wesen wird. Wo sich
Malthus und Haller bei uns verbinden, da ist die Abnormität vollen¬
det. --

Eine zweite Ansicht betrachtet die Armuth als von der Gesell¬
schaft verschuldet, als nicht in der Natur des Menschen begründet,
also als teilt ursprüngliches Verhältniß. Es liegt ihr demnach ob zu
untersuchen, wodurch und in wiefern die Armuth von der Gesellschaft
verschuldet worden sei und je nach dem Ergebnisse ihrer Untersuchun¬
gen Mittel zur Abhilfe in Anschlag zu bringen und anzuwenden. Hier
bildet sich denn wiederum eine große Differenz. Daß die Armuth vou
der Gesellschaft verschuldet worden, darüber streiten sie nicht, aber das
Wodurch macht die, welche im Vordersatze einig sind, zu entschiedenen
Gegnern. Zur Allgemeinen machen Beide einen strengen Unterschied
zwischen der frühern Gestalt der Armuth und derjenigen, welche sie in
der Neuzeit angenommen hat. Nun aber wollen die Einen den Grund
unserer "Massenverarmung", des sogenannten Pauperismus darin
finden, daß die frühern Schranken niedergerissen worden sind, daß die
Civilisation zu weit gegangen und sich zu frei entwickelt, sie sehen die
Ursache der großen Verarmung einerseits in Institutionen, wie die der
Gewerbefteiheit mit ihren anhängenden Erweiterungen leichter Verehe¬
lichung, andererseits aber in der religiösen Aufklärung und der aus


sich etwas von Malthus geltend. Nach unser» Malthusianern wiegt
sich der Reiche im Besitz auf dem keuchenden Rücken des Armen, das
soll der Wille der „Vorsehung", das die naturgemäße Organisation
der Menschheit sein. Der Geldmensch betrachtet sich als lentin; «:onsmnvr«
truKSL, die Masse ist nur dafür da, sich seinetwegen zu mühen und
zu darben. Wenn diese Ansicht auch nicht allzuviele theoretische An¬
hänger und Vertheidiger unter uns findet, so kann man doch nicht
umhin, zu bemerken, daß sie bei uns im praktischen Leben ganz gang
und gäbe ist und wir können es täglich sehen, wie der Reichthum die
mühsamen Erwerbnisse der Armuth dahin nimmt, als ob er dazu von
der „Vorsehung" berufen sei, als ob es gar nicht anders sein und
werden könne. Dieser Jndifferentismus deö Reichthums höhnt die
Armuth ebenso sehr, wenn auch größtentheils unbewußt, wie jene
Theorie der Armuth ihre höhern Berechtigungen gradewegs leugnet
und die Armen als Sklaven, als den immerdar verfluchten „Grund¬
stand der Gesellschaft" betrachtet. Nach dieser Theorie hört der Mensch
auf, ein freies, sittliches Wesen zu sein und er sinkt zum Naturpro-
ducte herunter, auf eine entgeiftete Stufe, wo die rohe Gewalt der
Stärke zur Berechtigung über alle schwächern Wesen wird. Wo sich
Malthus und Haller bei uns verbinden, da ist die Abnormität vollen¬
det. —

Eine zweite Ansicht betrachtet die Armuth als von der Gesell¬
schaft verschuldet, als nicht in der Natur des Menschen begründet,
also als teilt ursprüngliches Verhältniß. Es liegt ihr demnach ob zu
untersuchen, wodurch und in wiefern die Armuth von der Gesellschaft
verschuldet worden sei und je nach dem Ergebnisse ihrer Untersuchun¬
gen Mittel zur Abhilfe in Anschlag zu bringen und anzuwenden. Hier
bildet sich denn wiederum eine große Differenz. Daß die Armuth vou
der Gesellschaft verschuldet worden, darüber streiten sie nicht, aber das
Wodurch macht die, welche im Vordersatze einig sind, zu entschiedenen
Gegnern. Zur Allgemeinen machen Beide einen strengen Unterschied
zwischen der frühern Gestalt der Armuth und derjenigen, welche sie in
der Neuzeit angenommen hat. Nun aber wollen die Einen den Grund
unserer „Massenverarmung", des sogenannten Pauperismus darin
finden, daß die frühern Schranken niedergerissen worden sind, daß die
Civilisation zu weit gegangen und sich zu frei entwickelt, sie sehen die
Ursache der großen Verarmung einerseits in Institutionen, wie die der
Gewerbefteiheit mit ihren anhängenden Erweiterungen leichter Verehe¬
lichung, andererseits aber in der religiösen Aufklärung und der aus


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/288>, abgerufen am 24.07.2024.