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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.

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Menge von Gelehrten und Literaten die eigenthümlichen Natu¬
ren, die hervorstechenden Physiognomien?

Wer in diesem Augenblick in den Literaturen der europäischen
Völker verschiedene Richtungen und eine jedem Lande eigenthümliche
Poesie sticht, sucht vergebens.

Man konnte fast sagen, daß fremde Literaturen nicht mehr eri-
stiren. Ueberall, im Norden und im Süden, zeigen die Generationen
der Gegenwart dasselbe Gepräge. Man gehe über den Rhein und
den Canal, über die Alpen und Pyrenäen, überall findet man wieder,
wovor man in der eigenen Heimath zu fliehen suchte. Besonders ist
Deutschland uns Franzosen zu ähnlich geworden, mehr als wir wün¬
schen können. Die literarischen Untugenden,.die Erschlaffung, die Zü-
gellosigkeit, die sich spreizende Unfruchtbarkeit, alle Fehler, die nur bei
uns zu rügen haben, haben sich in dem Vaterlande Goethe's und
Schiller's eingebürgert. Die Phantasie ist auch dort eine von der
Industrie ausgebeutete Waare geworden, und die Kunst verschwindet
in dem Maße, wie die geistige Bildung der Besitz einer großem Zahl
wird. Man weiß, was ans dem Roman, der vor kaum zehn Jahren
noch eine so hohe Stellung einnahm, in unsern Fabriken geworden ist.
Deutschland, das seit Goethe und Jean Paul dieses Glück nicht ge¬
habt, hat uns sehr schnell unsere gegenwärtigen Verirrungen abge¬
lernt. Auch in der Heimath Mignon's, wie in der Valentinen's und
Mauprat's, sind Tausende von Federn damit beschäftigt, unverdau¬
liche Producte zu fabriciren. Man kann diese Fluth von Ereignissen
in zwei Klassen theilen; zu der einen gehören die socialistischen Ro¬
mane, die Erzählungen mit großen philosophischen und politischen Prä-
tentionen, zu der audern die tendenziösen Erzähler, die ewigen Fabri¬
kanten, die Schriftsteller, die ihre kleine bürgerliche Industrie hinter
Gott weiß welchen aristokratischem Anstriche verstecken möchten. Dort
begegnen uns die Nachzügler des jungen Deutschlands, die Erben des
Herrn Mundt und Consorten, hier die vornehmen Schriftsteller, an de¬
ren Spitze die Gräfin Hahn-Hahn steht.

Die politischen Bewegungen Deutschlands sind dem Gedeihen
der Poesie nicht sehr günstig. Diese Bewegungen, die unsere innigste
Theilnahme verdienen, werden sicherlich von großem Gewinne beglei¬
tet sein: der Geist der Nation wird dadurch neue Eigenschaften an¬
nehmen, neue verborgene Seiten aus sich entwickeln. Aber diese Um¬
wandlung ist mir Gefahren verbunden: es ist zu befürchten, daß gar
kostbare Dinge dabei verlöre"? gehen. Man fängt nämlich an, die al-


Menge von Gelehrten und Literaten die eigenthümlichen Natu¬
ren, die hervorstechenden Physiognomien?

Wer in diesem Augenblick in den Literaturen der europäischen
Völker verschiedene Richtungen und eine jedem Lande eigenthümliche
Poesie sticht, sucht vergebens.

Man konnte fast sagen, daß fremde Literaturen nicht mehr eri-
stiren. Ueberall, im Norden und im Süden, zeigen die Generationen
der Gegenwart dasselbe Gepräge. Man gehe über den Rhein und
den Canal, über die Alpen und Pyrenäen, überall findet man wieder,
wovor man in der eigenen Heimath zu fliehen suchte. Besonders ist
Deutschland uns Franzosen zu ähnlich geworden, mehr als wir wün¬
schen können. Die literarischen Untugenden,.die Erschlaffung, die Zü-
gellosigkeit, die sich spreizende Unfruchtbarkeit, alle Fehler, die nur bei
uns zu rügen haben, haben sich in dem Vaterlande Goethe's und
Schiller's eingebürgert. Die Phantasie ist auch dort eine von der
Industrie ausgebeutete Waare geworden, und die Kunst verschwindet
in dem Maße, wie die geistige Bildung der Besitz einer großem Zahl
wird. Man weiß, was ans dem Roman, der vor kaum zehn Jahren
noch eine so hohe Stellung einnahm, in unsern Fabriken geworden ist.
Deutschland, das seit Goethe und Jean Paul dieses Glück nicht ge¬
habt, hat uns sehr schnell unsere gegenwärtigen Verirrungen abge¬
lernt. Auch in der Heimath Mignon's, wie in der Valentinen's und
Mauprat's, sind Tausende von Federn damit beschäftigt, unverdau¬
liche Producte zu fabriciren. Man kann diese Fluth von Ereignissen
in zwei Klassen theilen; zu der einen gehören die socialistischen Ro¬
mane, die Erzählungen mit großen philosophischen und politischen Prä-
tentionen, zu der audern die tendenziösen Erzähler, die ewigen Fabri¬
kanten, die Schriftsteller, die ihre kleine bürgerliche Industrie hinter
Gott weiß welchen aristokratischem Anstriche verstecken möchten. Dort
begegnen uns die Nachzügler des jungen Deutschlands, die Erben des
Herrn Mundt und Consorten, hier die vornehmen Schriftsteller, an de¬
ren Spitze die Gräfin Hahn-Hahn steht.

Die politischen Bewegungen Deutschlands sind dem Gedeihen
der Poesie nicht sehr günstig. Diese Bewegungen, die unsere innigste
Theilnahme verdienen, werden sicherlich von großem Gewinne beglei¬
tet sein: der Geist der Nation wird dadurch neue Eigenschaften an¬
nehmen, neue verborgene Seiten aus sich entwickeln. Aber diese Um¬
wandlung ist mir Gefahren verbunden: es ist zu befürchten, daß gar
kostbare Dinge dabei verlöre«? gehen. Man fängt nämlich an, die al-


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[0026] Menge von Gelehrten und Literaten die eigenthümlichen Natu¬ ren, die hervorstechenden Physiognomien? Wer in diesem Augenblick in den Literaturen der europäischen Völker verschiedene Richtungen und eine jedem Lande eigenthümliche Poesie sticht, sucht vergebens. Man konnte fast sagen, daß fremde Literaturen nicht mehr eri- stiren. Ueberall, im Norden und im Süden, zeigen die Generationen der Gegenwart dasselbe Gepräge. Man gehe über den Rhein und den Canal, über die Alpen und Pyrenäen, überall findet man wieder, wovor man in der eigenen Heimath zu fliehen suchte. Besonders ist Deutschland uns Franzosen zu ähnlich geworden, mehr als wir wün¬ schen können. Die literarischen Untugenden,.die Erschlaffung, die Zü- gellosigkeit, die sich spreizende Unfruchtbarkeit, alle Fehler, die nur bei uns zu rügen haben, haben sich in dem Vaterlande Goethe's und Schiller's eingebürgert. Die Phantasie ist auch dort eine von der Industrie ausgebeutete Waare geworden, und die Kunst verschwindet in dem Maße, wie die geistige Bildung der Besitz einer großem Zahl wird. Man weiß, was ans dem Roman, der vor kaum zehn Jahren noch eine so hohe Stellung einnahm, in unsern Fabriken geworden ist. Deutschland, das seit Goethe und Jean Paul dieses Glück nicht ge¬ habt, hat uns sehr schnell unsere gegenwärtigen Verirrungen abge¬ lernt. Auch in der Heimath Mignon's, wie in der Valentinen's und Mauprat's, sind Tausende von Federn damit beschäftigt, unverdau¬ liche Producte zu fabriciren. Man kann diese Fluth von Ereignissen in zwei Klassen theilen; zu der einen gehören die socialistischen Ro¬ mane, die Erzählungen mit großen philosophischen und politischen Prä- tentionen, zu der audern die tendenziösen Erzähler, die ewigen Fabri¬ kanten, die Schriftsteller, die ihre kleine bürgerliche Industrie hinter Gott weiß welchen aristokratischem Anstriche verstecken möchten. Dort begegnen uns die Nachzügler des jungen Deutschlands, die Erben des Herrn Mundt und Consorten, hier die vornehmen Schriftsteller, an de¬ ren Spitze die Gräfin Hahn-Hahn steht. Die politischen Bewegungen Deutschlands sind dem Gedeihen der Poesie nicht sehr günstig. Diese Bewegungen, die unsere innigste Theilnahme verdienen, werden sicherlich von großem Gewinne beglei¬ tet sein: der Geist der Nation wird dadurch neue Eigenschaften an¬ nehmen, neue verborgene Seiten aus sich entwickeln. Aber diese Um¬ wandlung ist mir Gefahren verbunden: es ist zu befürchten, daß gar kostbare Dinge dabei verlöre«? gehen. Man fängt nämlich an, die al-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/26>, abgerufen am 24.07.2024.