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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.

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nicht verloren ist; aber die deutschen Dichter, sie sollten es doch noch
ein paar Jahre mit ansehen, sie sollten es ihnen doch noch glauben.
Ach, es ist nicht gut, wenn die Dichter dem Verbluten eines Volkes
so ruhig zusehen können, es ist wahrlich nicht gut! Man merkt es
bei dieser Gelegenheit wohl, daß Lenau krank ist, und Heine in den
fernen Pyrenäen badet. Und im Grunde ist auch die Polenbegeiste¬
rung, so wie die für Griechenland immer noch einer der besten Stoffe
für unsere Freiheits-Dichter gewesen, nirgends haben sie so Vieles her¬
vorgebracht, was auch vollen künstlerischen Werth hat als gerade hier.

Günther Nicol legt seinen Zeitgedichten meist Begebenheiten zum
Grunde, die schon an sich von poetischem Interesse sind. Wo dies
nicht der Fall ist, da treten sie in der Regel geradezu als Gelegen¬
heitsgedichte auf. Unter den letztern scheint mir das auf Sanders Tod
und das auf die Leipziger August-Ereignisse bezügliche: Unschuldig
Blut -- besonders gelungen.

Unter den vermischten Gedichten kann: die Wache (S. 99) her-
vorgH" )ben werden. Sie steht am Tage vor der Schlacht auf ihrem
Posten, und sieht langsam den "König von Gruft und Grab" in das
Lager einziehen, wo ihre Kameraden schlummern. Dann "des Bettel¬
weibs Rache," die gefangene Lerche," ein schon oftmals dagewesener,
aber hier sehr glücklich behandelter Gegenstand.

Heute, am Freitage, habe ich mir eine Fastenspeise ausgewählt:
Gedichte von Otto Weber.

Otto Weber ist ein recht resoluter Dichter, der nicht allein das,
was man die alte Leier nennt, sondern auch, was man füglich die
junge Leier nennen konnte, noch einmal frisch vom Blatte wegspielt;
in der Natur bleiben ihm die kleinsten Farbenunterschiede nicht verbor¬
gen, und der Contrast, den das helle Grün der Wiesen mit dem dunk¬
leren der Tannen bildet, erinnert ihn (S. 9) an den Unterschied zwi¬
schen den ernsten und den heitern Loosen des menschlichen Lebens, ein
funkelnagelneuer, noch nie da gewesener Gedanke! Manchen Gedan¬
ken, den andere Schriftsteller nur andeuteten, findet er nöthig in einer
langen Ballade weiter auszuführen, z. B. das dictum des alten Ho-
ratius: Kellet ittri" cura post o<Mtem --


nicht verloren ist; aber die deutschen Dichter, sie sollten es doch noch
ein paar Jahre mit ansehen, sie sollten es ihnen doch noch glauben.
Ach, es ist nicht gut, wenn die Dichter dem Verbluten eines Volkes
so ruhig zusehen können, es ist wahrlich nicht gut! Man merkt es
bei dieser Gelegenheit wohl, daß Lenau krank ist, und Heine in den
fernen Pyrenäen badet. Und im Grunde ist auch die Polenbegeiste¬
rung, so wie die für Griechenland immer noch einer der besten Stoffe
für unsere Freiheits-Dichter gewesen, nirgends haben sie so Vieles her¬
vorgebracht, was auch vollen künstlerischen Werth hat als gerade hier.

Günther Nicol legt seinen Zeitgedichten meist Begebenheiten zum
Grunde, die schon an sich von poetischem Interesse sind. Wo dies
nicht der Fall ist, da treten sie in der Regel geradezu als Gelegen¬
heitsgedichte auf. Unter den letztern scheint mir das auf Sanders Tod
und das auf die Leipziger August-Ereignisse bezügliche: Unschuldig
Blut — besonders gelungen.

Unter den vermischten Gedichten kann: die Wache (S. 99) her-
vorgH" )ben werden. Sie steht am Tage vor der Schlacht auf ihrem
Posten, und sieht langsam den „König von Gruft und Grab" in das
Lager einziehen, wo ihre Kameraden schlummern. Dann „des Bettel¬
weibs Rache," die gefangene Lerche," ein schon oftmals dagewesener,
aber hier sehr glücklich behandelter Gegenstand.

Heute, am Freitage, habe ich mir eine Fastenspeise ausgewählt:
Gedichte von Otto Weber.

Otto Weber ist ein recht resoluter Dichter, der nicht allein das,
was man die alte Leier nennt, sondern auch, was man füglich die
junge Leier nennen konnte, noch einmal frisch vom Blatte wegspielt;
in der Natur bleiben ihm die kleinsten Farbenunterschiede nicht verbor¬
gen, und der Contrast, den das helle Grün der Wiesen mit dem dunk¬
leren der Tannen bildet, erinnert ihn (S. 9) an den Unterschied zwi¬
schen den ernsten und den heitern Loosen des menschlichen Lebens, ein
funkelnagelneuer, noch nie da gewesener Gedanke! Manchen Gedan¬
ken, den andere Schriftsteller nur andeuteten, findet er nöthig in einer
langen Ballade weiter auszuführen, z. B. das dictum des alten Ho-
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[0244] nicht verloren ist; aber die deutschen Dichter, sie sollten es doch noch ein paar Jahre mit ansehen, sie sollten es ihnen doch noch glauben. Ach, es ist nicht gut, wenn die Dichter dem Verbluten eines Volkes so ruhig zusehen können, es ist wahrlich nicht gut! Man merkt es bei dieser Gelegenheit wohl, daß Lenau krank ist, und Heine in den fernen Pyrenäen badet. Und im Grunde ist auch die Polenbegeiste¬ rung, so wie die für Griechenland immer noch einer der besten Stoffe für unsere Freiheits-Dichter gewesen, nirgends haben sie so Vieles her¬ vorgebracht, was auch vollen künstlerischen Werth hat als gerade hier. Günther Nicol legt seinen Zeitgedichten meist Begebenheiten zum Grunde, die schon an sich von poetischem Interesse sind. Wo dies nicht der Fall ist, da treten sie in der Regel geradezu als Gelegen¬ heitsgedichte auf. Unter den letztern scheint mir das auf Sanders Tod und das auf die Leipziger August-Ereignisse bezügliche: Unschuldig Blut — besonders gelungen. Unter den vermischten Gedichten kann: die Wache (S. 99) her- vorgH" )ben werden. Sie steht am Tage vor der Schlacht auf ihrem Posten, und sieht langsam den „König von Gruft und Grab" in das Lager einziehen, wo ihre Kameraden schlummern. Dann „des Bettel¬ weibs Rache," die gefangene Lerche," ein schon oftmals dagewesener, aber hier sehr glücklich behandelter Gegenstand. Heute, am Freitage, habe ich mir eine Fastenspeise ausgewählt: Gedichte von Otto Weber. Otto Weber ist ein recht resoluter Dichter, der nicht allein das, was man die alte Leier nennt, sondern auch, was man füglich die junge Leier nennen konnte, noch einmal frisch vom Blatte wegspielt; in der Natur bleiben ihm die kleinsten Farbenunterschiede nicht verbor¬ gen, und der Contrast, den das helle Grün der Wiesen mit dem dunk¬ leren der Tannen bildet, erinnert ihn (S. 9) an den Unterschied zwi¬ schen den ernsten und den heitern Loosen des menschlichen Lebens, ein funkelnagelneuer, noch nie da gewesener Gedanke! Manchen Gedan¬ ken, den andere Schriftsteller nur andeuteten, findet er nöthig in einer langen Ballade weiter auszuführen, z. B. das dictum des alten Ho- ratius: Kellet ittri» cura post o<Mtem —

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/244>, abgerufen am 24.07.2024.