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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.

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sich Shakespeare am Hofe der Königin Elisabeth und Goethe als Mi¬
nister in Weimar wahrlich nicht hat verkümmern lassen. Aber das ist
nicht zu leugnen, dieses künstlerische Freiheitsgefühl, welches mit der
politischen Gesinnung des Dichters zunächst gar nichts zu thun hat,
hat ein bedeutendes positives Element in sich; denn es beruht eben
auf der Fähigkeit des Dichters, die ganze Welt in jedem Augenblicke
poetisch zu verklären, sie zu idealisiren, d. h. sie durch seine eigenthüm¬
liche Weltanschauung zur Einheit mit seinem poetischen Genius zu er¬
heben. Unter diesen Umständen muß dem künstlerischen Freiheitsgefühle
dasjenige Freiheitsgefühl, welches aus der Philosophie stammt, nicht
selten schroff gegenübertreten. Das letztere enthält allerdings ein star¬
kes, negatives Element, das die Welt in einzelne Begriffe und Kate¬
gorien auflöst. Und doch hat man in unserer vorzugsweise philoso¬
phischen Zeit die künstlerische Eilen'ickelung oft geradezu mit der phi¬
losophischen verwechselt. Wir haben bereits philosophische Dichter,
welche in der Poesie große Verwüstungen anrichten. Sie kämpfen in
ihren Versen gegen jenen einfachen Apparat von Vorstellungen und
Anschauungen, mit dem die Poesie Jahrhunderte lang frei und sicher
geschaltet hat, und das dem Gemüthe des Lesers so wohl thut wie dem
des Spaziergängers das frische Grün, das er ringsumher erblickt. Ich
will ein Beispiel anführen. Da ist ein Dichter, Herr Gottschall, wel¬
cher seiner Geliebten zuruft: wir sind beisammen, laß uns sündigen,
und dann in einer gereimten Abhandlung seine Liebe vor dem Publi-
cum durch philosophische Deductionen zu rechtfertigen sucht, weil sie
ohne die Ehe auftritt, bei welchem gutmüthigen Bestreben aber die bis¬
herige Stellung der Liebe zur Poesie auf eine wahrhaft lächerliche
Weise verrückt und verschoben wird. O Ihr Verblendeten! so fragt
doch nach bei Egmonts Clärchen, ob sie gesündigt hat und sich ei¬
ner Schuld bewußt war! Es ist weltbekannt, daß die Liebe in der
Poesie und namentlich in der Lyrik mancher Formalitäten überhoben
ist, deren sie in der Wirklichkeit zu ihrer Legitimation bedarf. Will
nun aber der Dichter aus freien Stücken auf diese ein Gewicht legen,
so ist dies vollkommen sinnlos, sobald er sich dabei nicht auf den
Standpunkt des Volksbewußtseins, sondern auf den der Philosophie
versetzt. Wer A sagt, muß B sagen und auf die "Sünde" kann
auch der Dichter nur die Strafe folgen lassen. Es ist eine große Ver-
irrung, wenn er gegen die hergebrachte sittliche Weltordnung ankämpfen
will, der sich Goethe in seiner freisten und genialsten Schöpfung im
Faust ohne Weiteres untergeordnet hat.


sich Shakespeare am Hofe der Königin Elisabeth und Goethe als Mi¬
nister in Weimar wahrlich nicht hat verkümmern lassen. Aber das ist
nicht zu leugnen, dieses künstlerische Freiheitsgefühl, welches mit der
politischen Gesinnung des Dichters zunächst gar nichts zu thun hat,
hat ein bedeutendes positives Element in sich; denn es beruht eben
auf der Fähigkeit des Dichters, die ganze Welt in jedem Augenblicke
poetisch zu verklären, sie zu idealisiren, d. h. sie durch seine eigenthüm¬
liche Weltanschauung zur Einheit mit seinem poetischen Genius zu er¬
heben. Unter diesen Umständen muß dem künstlerischen Freiheitsgefühle
dasjenige Freiheitsgefühl, welches aus der Philosophie stammt, nicht
selten schroff gegenübertreten. Das letztere enthält allerdings ein star¬
kes, negatives Element, das die Welt in einzelne Begriffe und Kate¬
gorien auflöst. Und doch hat man in unserer vorzugsweise philoso¬
phischen Zeit die künstlerische Eilen'ickelung oft geradezu mit der phi¬
losophischen verwechselt. Wir haben bereits philosophische Dichter,
welche in der Poesie große Verwüstungen anrichten. Sie kämpfen in
ihren Versen gegen jenen einfachen Apparat von Vorstellungen und
Anschauungen, mit dem die Poesie Jahrhunderte lang frei und sicher
geschaltet hat, und das dem Gemüthe des Lesers so wohl thut wie dem
des Spaziergängers das frische Grün, das er ringsumher erblickt. Ich
will ein Beispiel anführen. Da ist ein Dichter, Herr Gottschall, wel¬
cher seiner Geliebten zuruft: wir sind beisammen, laß uns sündigen,
und dann in einer gereimten Abhandlung seine Liebe vor dem Publi-
cum durch philosophische Deductionen zu rechtfertigen sucht, weil sie
ohne die Ehe auftritt, bei welchem gutmüthigen Bestreben aber die bis¬
herige Stellung der Liebe zur Poesie auf eine wahrhaft lächerliche
Weise verrückt und verschoben wird. O Ihr Verblendeten! so fragt
doch nach bei Egmonts Clärchen, ob sie gesündigt hat und sich ei¬
ner Schuld bewußt war! Es ist weltbekannt, daß die Liebe in der
Poesie und namentlich in der Lyrik mancher Formalitäten überhoben
ist, deren sie in der Wirklichkeit zu ihrer Legitimation bedarf. Will
nun aber der Dichter aus freien Stücken auf diese ein Gewicht legen,
so ist dies vollkommen sinnlos, sobald er sich dabei nicht auf den
Standpunkt des Volksbewußtseins, sondern auf den der Philosophie
versetzt. Wer A sagt, muß B sagen und auf die „Sünde" kann
auch der Dichter nur die Strafe folgen lassen. Es ist eine große Ver-
irrung, wenn er gegen die hergebrachte sittliche Weltordnung ankämpfen
will, der sich Goethe in seiner freisten und genialsten Schöpfung im
Faust ohne Weiteres untergeordnet hat.


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[0240] sich Shakespeare am Hofe der Königin Elisabeth und Goethe als Mi¬ nister in Weimar wahrlich nicht hat verkümmern lassen. Aber das ist nicht zu leugnen, dieses künstlerische Freiheitsgefühl, welches mit der politischen Gesinnung des Dichters zunächst gar nichts zu thun hat, hat ein bedeutendes positives Element in sich; denn es beruht eben auf der Fähigkeit des Dichters, die ganze Welt in jedem Augenblicke poetisch zu verklären, sie zu idealisiren, d. h. sie durch seine eigenthüm¬ liche Weltanschauung zur Einheit mit seinem poetischen Genius zu er¬ heben. Unter diesen Umständen muß dem künstlerischen Freiheitsgefühle dasjenige Freiheitsgefühl, welches aus der Philosophie stammt, nicht selten schroff gegenübertreten. Das letztere enthält allerdings ein star¬ kes, negatives Element, das die Welt in einzelne Begriffe und Kate¬ gorien auflöst. Und doch hat man in unserer vorzugsweise philoso¬ phischen Zeit die künstlerische Eilen'ickelung oft geradezu mit der phi¬ losophischen verwechselt. Wir haben bereits philosophische Dichter, welche in der Poesie große Verwüstungen anrichten. Sie kämpfen in ihren Versen gegen jenen einfachen Apparat von Vorstellungen und Anschauungen, mit dem die Poesie Jahrhunderte lang frei und sicher geschaltet hat, und das dem Gemüthe des Lesers so wohl thut wie dem des Spaziergängers das frische Grün, das er ringsumher erblickt. Ich will ein Beispiel anführen. Da ist ein Dichter, Herr Gottschall, wel¬ cher seiner Geliebten zuruft: wir sind beisammen, laß uns sündigen, und dann in einer gereimten Abhandlung seine Liebe vor dem Publi- cum durch philosophische Deductionen zu rechtfertigen sucht, weil sie ohne die Ehe auftritt, bei welchem gutmüthigen Bestreben aber die bis¬ herige Stellung der Liebe zur Poesie auf eine wahrhaft lächerliche Weise verrückt und verschoben wird. O Ihr Verblendeten! so fragt doch nach bei Egmonts Clärchen, ob sie gesündigt hat und sich ei¬ ner Schuld bewußt war! Es ist weltbekannt, daß die Liebe in der Poesie und namentlich in der Lyrik mancher Formalitäten überhoben ist, deren sie in der Wirklichkeit zu ihrer Legitimation bedarf. Will nun aber der Dichter aus freien Stücken auf diese ein Gewicht legen, so ist dies vollkommen sinnlos, sobald er sich dabei nicht auf den Standpunkt des Volksbewußtseins, sondern auf den der Philosophie versetzt. Wer A sagt, muß B sagen und auf die „Sünde" kann auch der Dichter nur die Strafe folgen lassen. Es ist eine große Ver- irrung, wenn er gegen die hergebrachte sittliche Weltordnung ankämpfen will, der sich Goethe in seiner freisten und genialsten Schöpfung im Faust ohne Weiteres untergeordnet hat.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/240>, abgerufen am 04.07.2024.