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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.

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niedersenkt. Welche Thorheit, wenn eine Partei ihre besondern Pnn-
cipien als das Universalmittel ausruft mit von dem Volke verlangt,
daß es um die Erlangung dieses Universalmittels alles Andere auf¬
geben solle. Die, welche sich auf die Lehren der Geschichte berufen,
belügen sich und Andere selbst über die Geschichte. Wem gehört die
Geschichte Englands? Den Whig's? Den Tory's? Wird die Zu¬
kunft der englischen Geschichte etwa dem Chartismus gehören? Die
englische Geschichte wird immer dem englischen Volke gehören, die
Geschichte steht über den Parteien. So gehört auch die preußische
Gegenwart, die preußische Geschichte dem preußischen Volke und daS
preußische Volk verdient grade eine solche Gegenwart, eine solche Ge¬
schichte zu haben, wie es sich dieselbe schafft, wie es sich in dersel¬
ben entwickelt. -- Nur durch die Elektricität, welche sich durch
gegenseitige Reibung in allen Sphären der Intelligenz entwickelt, wird
auch der Indifferentismus der Masse für die wahrhafte Geschichts-
erzeugung gewonnen werden können. Nicht an sich, nicht unmittelbar,
sondern nur als Mittel haben die Principien- und Parteibewegungen
ein Interesse für den Gesammtorganismus der Geschichte. Unter den
Höhen des Geistes, der Wissenschaft, ruhen noch dunkle, nebelnde
Thäler.

Indem wir nun speciell auf Berlin, als den Eentralpunkt Preu¬
ßens, zurückkommen, haben wir, unsern Grundsätzen gemäß, über dem
Licht nicht das Dunkel, über dem Kreislauf der Bewegung nicht die
Ruhe des Indifferentismus zu vergessen. Wie spottet man nicht aus¬
wärts, in den Provinzen, an allen Enden Deutschlands über diesen
Indifferentismus! Aber hat man ihn einmal ordentlich betrachtet?
Hat man einmal die localen Ursachen aufgespürt, welche, abgesehen
von der allgemeinen schwerfälligen Menschennatur, diesem berliner In¬
differentismus, der, wir dürfen uns nicht täuschen, der Zahl nach,
immer noch die große Mehrzahl der Bevölkerung beherrscht, zum
Grunde liegen? Berlin ist eine Stadt, welche, unter günstigern Ver¬
hältnissen als Potsdam, von der regierenden Dynastie gehoben wurde.
Erst in neuerer und neuester Zeit sucht es sich in eigenen Peripetien,
als eine europäische Großstadt zu entwickeln und die Hofkleidung des
regierenden Hauses mitten Civilrock zuvertauschen. DerVortheil, welchen
Berlin von seinem Charakter als Residenz zieht, hat einen großen T )eil der
Bevölkerung zum unbedingten Verehrer der absoluten Regierungskrast
gemacht. Bedenkt man ferner, daß sich die ganze Regierungskraft des
preußischen Staates in Berlin concentrirt und unmittelbar auf den


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niedersenkt. Welche Thorheit, wenn eine Partei ihre besondern Pnn-
cipien als das Universalmittel ausruft mit von dem Volke verlangt,
daß es um die Erlangung dieses Universalmittels alles Andere auf¬
geben solle. Die, welche sich auf die Lehren der Geschichte berufen,
belügen sich und Andere selbst über die Geschichte. Wem gehört die
Geschichte Englands? Den Whig's? Den Tory's? Wird die Zu¬
kunft der englischen Geschichte etwa dem Chartismus gehören? Die
englische Geschichte wird immer dem englischen Volke gehören, die
Geschichte steht über den Parteien. So gehört auch die preußische
Gegenwart, die preußische Geschichte dem preußischen Volke und daS
preußische Volk verdient grade eine solche Gegenwart, eine solche Ge¬
schichte zu haben, wie es sich dieselbe schafft, wie es sich in dersel¬
ben entwickelt. — Nur durch die Elektricität, welche sich durch
gegenseitige Reibung in allen Sphären der Intelligenz entwickelt, wird
auch der Indifferentismus der Masse für die wahrhafte Geschichts-
erzeugung gewonnen werden können. Nicht an sich, nicht unmittelbar,
sondern nur als Mittel haben die Principien- und Parteibewegungen
ein Interesse für den Gesammtorganismus der Geschichte. Unter den
Höhen des Geistes, der Wissenschaft, ruhen noch dunkle, nebelnde
Thäler.

Indem wir nun speciell auf Berlin, als den Eentralpunkt Preu¬
ßens, zurückkommen, haben wir, unsern Grundsätzen gemäß, über dem
Licht nicht das Dunkel, über dem Kreislauf der Bewegung nicht die
Ruhe des Indifferentismus zu vergessen. Wie spottet man nicht aus¬
wärts, in den Provinzen, an allen Enden Deutschlands über diesen
Indifferentismus! Aber hat man ihn einmal ordentlich betrachtet?
Hat man einmal die localen Ursachen aufgespürt, welche, abgesehen
von der allgemeinen schwerfälligen Menschennatur, diesem berliner In¬
differentismus, der, wir dürfen uns nicht täuschen, der Zahl nach,
immer noch die große Mehrzahl der Bevölkerung beherrscht, zum
Grunde liegen? Berlin ist eine Stadt, welche, unter günstigern Ver¬
hältnissen als Potsdam, von der regierenden Dynastie gehoben wurde.
Erst in neuerer und neuester Zeit sucht es sich in eigenen Peripetien,
als eine europäische Großstadt zu entwickeln und die Hofkleidung des
regierenden Hauses mitten Civilrock zuvertauschen. DerVortheil, welchen
Berlin von seinem Charakter als Residenz zieht, hat einen großen T )eil der
Bevölkerung zum unbedingten Verehrer der absoluten Regierungskrast
gemacht. Bedenkt man ferner, daß sich die ganze Regierungskraft des
preußischen Staates in Berlin concentrirt und unmittelbar auf den


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[0197] niedersenkt. Welche Thorheit, wenn eine Partei ihre besondern Pnn- cipien als das Universalmittel ausruft mit von dem Volke verlangt, daß es um die Erlangung dieses Universalmittels alles Andere auf¬ geben solle. Die, welche sich auf die Lehren der Geschichte berufen, belügen sich und Andere selbst über die Geschichte. Wem gehört die Geschichte Englands? Den Whig's? Den Tory's? Wird die Zu¬ kunft der englischen Geschichte etwa dem Chartismus gehören? Die englische Geschichte wird immer dem englischen Volke gehören, die Geschichte steht über den Parteien. So gehört auch die preußische Gegenwart, die preußische Geschichte dem preußischen Volke und daS preußische Volk verdient grade eine solche Gegenwart, eine solche Ge¬ schichte zu haben, wie es sich dieselbe schafft, wie es sich in dersel¬ ben entwickelt. — Nur durch die Elektricität, welche sich durch gegenseitige Reibung in allen Sphären der Intelligenz entwickelt, wird auch der Indifferentismus der Masse für die wahrhafte Geschichts- erzeugung gewonnen werden können. Nicht an sich, nicht unmittelbar, sondern nur als Mittel haben die Principien- und Parteibewegungen ein Interesse für den Gesammtorganismus der Geschichte. Unter den Höhen des Geistes, der Wissenschaft, ruhen noch dunkle, nebelnde Thäler. Indem wir nun speciell auf Berlin, als den Eentralpunkt Preu¬ ßens, zurückkommen, haben wir, unsern Grundsätzen gemäß, über dem Licht nicht das Dunkel, über dem Kreislauf der Bewegung nicht die Ruhe des Indifferentismus zu vergessen. Wie spottet man nicht aus¬ wärts, in den Provinzen, an allen Enden Deutschlands über diesen Indifferentismus! Aber hat man ihn einmal ordentlich betrachtet? Hat man einmal die localen Ursachen aufgespürt, welche, abgesehen von der allgemeinen schwerfälligen Menschennatur, diesem berliner In¬ differentismus, der, wir dürfen uns nicht täuschen, der Zahl nach, immer noch die große Mehrzahl der Bevölkerung beherrscht, zum Grunde liegen? Berlin ist eine Stadt, welche, unter günstigern Ver¬ hältnissen als Potsdam, von der regierenden Dynastie gehoben wurde. Erst in neuerer und neuester Zeit sucht es sich in eigenen Peripetien, als eine europäische Großstadt zu entwickeln und die Hofkleidung des regierenden Hauses mitten Civilrock zuvertauschen. DerVortheil, welchen Berlin von seinem Charakter als Residenz zieht, hat einen großen T )eil der Bevölkerung zum unbedingten Verehrer der absoluten Regierungskrast gemacht. Bedenkt man ferner, daß sich die ganze Regierungskraft des preußischen Staates in Berlin concentrirt und unmittelbar auf den 25 -i-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/197>, abgerufen am 25.07.2024.