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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.

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Zu" neuesten Volksbiieratur"



Das Interesse für die Volksliteratur und die erhöhte Thätigkeit
auf dem Gebiete derselben ist eilt erfreuliches Zeichen unserer neuesten
Gegenwart. Als das deutsche Volk aufgehört hatte, selbstständig-pro-
ductiv zu sein, als seine unmittelbare Produktivität mit all' den schö¬
nen Liedern und Sagen und wunderbaren Geschichten erlosch, als die
Herrschaft der bevorrechteten Kasten begonnen und sich festgestellt hatte,
als das deutsche Volk aufhören mußte, die deutsche Nation zu sein
und die Massen unter dem Drucke der Zustände nur noch vegetativ
von einer Generation auf die andere lebten, war es mit dem inne¬
ren, frischen Leben des Volkes, natürlich auch mit der eigentlichen
Volksliteratur vorbei. Der Protestantismus, in dem das Volksleben
frisch und kräftig ansetzte, wendete sich zu den bevorrechteten Regio¬
nen. Er gab dem Volke wohl principiell die Möglichkeit einer volks-
thümlichen Entwickelung, aber er brachte es nicht zu der Thatsäch¬
lichkeit derselben. Der Rationalismus des vorigen Jahrhunderts, die
sogenannte Aufklärung, war ebenfalls fern von aller volksthümlichen
Wirkung. Sie versuchte sich sogar in einer flachen Negation der
volksthümlichen Elemente. Erst nach und nach wurde die Masse mit
tieferen Blicken angesehen, erhielt ihr Leben eine größere Bedeutung,
ihre Erhebung eine größere Berechtigung. Welche Verdienste Pesta-
lozzi sich in dieser Beziehung erworben, hat erst die neueste Zeit voll¬
ständig und richtig erkannt. Er ist etwas mehr, als ein bloßer Re¬
formator auf dem Gebiete des "Schulmeisterthumes" gewesen. Sein
"Ltenhard und Gertrud" gehört noch immer zu dem Besten unserer
Volksliteratur. Aber es ist zwischen der neuen und der alten Volks-
literatur ein auffallender, bemerkenswerther Unterschied. Die alte Li->


Zu« neuesten Volksbiieratur»



Das Interesse für die Volksliteratur und die erhöhte Thätigkeit
auf dem Gebiete derselben ist eilt erfreuliches Zeichen unserer neuesten
Gegenwart. Als das deutsche Volk aufgehört hatte, selbstständig-pro-
ductiv zu sein, als seine unmittelbare Produktivität mit all' den schö¬
nen Liedern und Sagen und wunderbaren Geschichten erlosch, als die
Herrschaft der bevorrechteten Kasten begonnen und sich festgestellt hatte,
als das deutsche Volk aufhören mußte, die deutsche Nation zu sein
und die Massen unter dem Drucke der Zustände nur noch vegetativ
von einer Generation auf die andere lebten, war es mit dem inne¬
ren, frischen Leben des Volkes, natürlich auch mit der eigentlichen
Volksliteratur vorbei. Der Protestantismus, in dem das Volksleben
frisch und kräftig ansetzte, wendete sich zu den bevorrechteten Regio¬
nen. Er gab dem Volke wohl principiell die Möglichkeit einer volks-
thümlichen Entwickelung, aber er brachte es nicht zu der Thatsäch¬
lichkeit derselben. Der Rationalismus des vorigen Jahrhunderts, die
sogenannte Aufklärung, war ebenfalls fern von aller volksthümlichen
Wirkung. Sie versuchte sich sogar in einer flachen Negation der
volksthümlichen Elemente. Erst nach und nach wurde die Masse mit
tieferen Blicken angesehen, erhielt ihr Leben eine größere Bedeutung,
ihre Erhebung eine größere Berechtigung. Welche Verdienste Pesta-
lozzi sich in dieser Beziehung erworben, hat erst die neueste Zeit voll¬
ständig und richtig erkannt. Er ist etwas mehr, als ein bloßer Re¬
formator auf dem Gebiete des „Schulmeisterthumes" gewesen. Sein
„Ltenhard und Gertrud" gehört noch immer zu dem Besten unserer
Volksliteratur. Aber es ist zwischen der neuen und der alten Volks-
literatur ein auffallender, bemerkenswerther Unterschied. Die alte Li->


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[0164] Zu« neuesten Volksbiieratur» Das Interesse für die Volksliteratur und die erhöhte Thätigkeit auf dem Gebiete derselben ist eilt erfreuliches Zeichen unserer neuesten Gegenwart. Als das deutsche Volk aufgehört hatte, selbstständig-pro- ductiv zu sein, als seine unmittelbare Produktivität mit all' den schö¬ nen Liedern und Sagen und wunderbaren Geschichten erlosch, als die Herrschaft der bevorrechteten Kasten begonnen und sich festgestellt hatte, als das deutsche Volk aufhören mußte, die deutsche Nation zu sein und die Massen unter dem Drucke der Zustände nur noch vegetativ von einer Generation auf die andere lebten, war es mit dem inne¬ ren, frischen Leben des Volkes, natürlich auch mit der eigentlichen Volksliteratur vorbei. Der Protestantismus, in dem das Volksleben frisch und kräftig ansetzte, wendete sich zu den bevorrechteten Regio¬ nen. Er gab dem Volke wohl principiell die Möglichkeit einer volks- thümlichen Entwickelung, aber er brachte es nicht zu der Thatsäch¬ lichkeit derselben. Der Rationalismus des vorigen Jahrhunderts, die sogenannte Aufklärung, war ebenfalls fern von aller volksthümlichen Wirkung. Sie versuchte sich sogar in einer flachen Negation der volksthümlichen Elemente. Erst nach und nach wurde die Masse mit tieferen Blicken angesehen, erhielt ihr Leben eine größere Bedeutung, ihre Erhebung eine größere Berechtigung. Welche Verdienste Pesta- lozzi sich in dieser Beziehung erworben, hat erst die neueste Zeit voll¬ ständig und richtig erkannt. Er ist etwas mehr, als ein bloßer Re¬ formator auf dem Gebiete des „Schulmeisterthumes" gewesen. Sein „Ltenhard und Gertrud" gehört noch immer zu dem Besten unserer Volksliteratur. Aber es ist zwischen der neuen und der alten Volks- literatur ein auffallender, bemerkenswerther Unterschied. Die alte Li->

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/164>, abgerufen am 24.07.2024.