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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.

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Überlegen an Geist und wahrhaft historischem Sinn ist Gervinus,
doch theilt er eine große Einseitigkeit, die mir den Heidelbergern im.
Allgemeinen eigen zu sein scheint und die doch wohl auf Schlosser'sah"
Anregung zurückgeführt werden muß. Ich meine das mangelnde Ver¬
ständniß für die unermeßliche Bedeutung des Christenthums, überhaupt
das Zurücktreten des religiösen Elements in der Geschichte. Nirgends!
liegt sie starker am Tage als in der Historik von Gervinus, wo er in
allem Ernste die Epoche der neuen Geschichte in dem Auftreten des. So-
krates, in der Erweiterung des historischen Schauplatzes durch die Erobe¬
rungen Alexanders findet, unbekümmert um die völlige Umgestaltung/
welche die Welt vornehmlich durch das Christenthum, sodann durch das
Austreten der Germanen und das Eindringen der christlichen Lehre in die
germanische Welt erhalten hat. Auch die Geschichte der poetischen Natio¬
nalliteratur der Deutschen liefert von solcher Ansicht mannichfache Belege.
Eben ganz und gar nicht mittelalterig ist der Sinn von Gervinus und
auch das Verständniß der Zeit geht ihm doch in manchen Beziehungen ab;
wahrend es vortrefflich ist, wo er die Bewegungen der neuern Zeit in
ihrem Reichthum und in ihrer Mannichfaltigkeit schildert .... Carl
Hagen unterscheidet sich von vielen seiner College" namentlich durch
klare und angenehme Form; sein interessantes Buch über die Reforma¬
tion bietet hierzu die schlagendsten Belege..... Hauffer ist nach
frühern unglücklichen oder minder bedeutenden Arbeiten mit der ausführ¬
lichen Geschichte der rheinischen Pfalz hervorgetreten, ein Buch, an dem
Fleiß und eine lesbare Darstellung gerühmt werden muß und das man
gern den bessern Provinzialgeschichten zur Seite stellen wird, wenn es
gleich zu den höhern Stufen geschichtlicher Forschung sich nicht erhebt.
Erwähnen muß ich es hauptsächlich, weil es schon jener sogenannten
ghibellinischen Ansicht angehört, welche eine andere Klasse süddeutscher
Historiker recht eigentlich charakterisirt, die Würtenberger vornehmlich und
die anderswo ihycn sich anschließen. Man möchte sie die Historiker
des Zollvereinsblattes und der allgemeinen Zeitung nen-.
nen, mit denen sie innerlich und äußerlich nahe zusammenhängen. Denn
eine patriotische deutsche Gesinnung ist sehr an ihnen zu loben, nur daß
sie einen einseitigen Charakter an sich trägt; wie sie die Gegenwart ganz
und gar nach besondern Interessen beurtheilt, so ist sie gegen manche
Seite der Vergangenheit wahrhaft ungerecht. Alles Gewicht wird auf
die Einheit des deutschen Reiches gelegt. Aber so nothwendig und erfreu¬
lich es sein mag, dem particularischen Interesse der Deutschen ein allge¬
meines entgegenzustellen und dies mit aller Energie in dem Gewoge der
Meinungen geltend zu machen, so wenig kann man es gut heißen, wenn
nur den Repräsentanten der deutschen Einheit, den Kaisern nämlich, alle
Vorliebe zugewandt und alles Recht zugeschrieben, den Entwickelungen
dagegen der Stamme und Fürstenthümer nur Ungunst und hartes Urtheil
gezeigt wird."

Zur Beurtheilung dieses Beurtheilers darf man nicht vergessen, daß
Herr Waitz ein geborner Preuße und aus der ranke'sehen Schule ist.


Überlegen an Geist und wahrhaft historischem Sinn ist Gervinus,
doch theilt er eine große Einseitigkeit, die mir den Heidelbergern im.
Allgemeinen eigen zu sein scheint und die doch wohl auf Schlosser'sah«
Anregung zurückgeführt werden muß. Ich meine das mangelnde Ver¬
ständniß für die unermeßliche Bedeutung des Christenthums, überhaupt
das Zurücktreten des religiösen Elements in der Geschichte. Nirgends!
liegt sie starker am Tage als in der Historik von Gervinus, wo er in
allem Ernste die Epoche der neuen Geschichte in dem Auftreten des. So-
krates, in der Erweiterung des historischen Schauplatzes durch die Erobe¬
rungen Alexanders findet, unbekümmert um die völlige Umgestaltung/
welche die Welt vornehmlich durch das Christenthum, sodann durch das
Austreten der Germanen und das Eindringen der christlichen Lehre in die
germanische Welt erhalten hat. Auch die Geschichte der poetischen Natio¬
nalliteratur der Deutschen liefert von solcher Ansicht mannichfache Belege.
Eben ganz und gar nicht mittelalterig ist der Sinn von Gervinus und
auch das Verständniß der Zeit geht ihm doch in manchen Beziehungen ab;
wahrend es vortrefflich ist, wo er die Bewegungen der neuern Zeit in
ihrem Reichthum und in ihrer Mannichfaltigkeit schildert .... Carl
Hagen unterscheidet sich von vielen seiner College» namentlich durch
klare und angenehme Form; sein interessantes Buch über die Reforma¬
tion bietet hierzu die schlagendsten Belege..... Hauffer ist nach
frühern unglücklichen oder minder bedeutenden Arbeiten mit der ausführ¬
lichen Geschichte der rheinischen Pfalz hervorgetreten, ein Buch, an dem
Fleiß und eine lesbare Darstellung gerühmt werden muß und das man
gern den bessern Provinzialgeschichten zur Seite stellen wird, wenn es
gleich zu den höhern Stufen geschichtlicher Forschung sich nicht erhebt.
Erwähnen muß ich es hauptsächlich, weil es schon jener sogenannten
ghibellinischen Ansicht angehört, welche eine andere Klasse süddeutscher
Historiker recht eigentlich charakterisirt, die Würtenberger vornehmlich und
die anderswo ihycn sich anschließen. Man möchte sie die Historiker
des Zollvereinsblattes und der allgemeinen Zeitung nen-.
nen, mit denen sie innerlich und äußerlich nahe zusammenhängen. Denn
eine patriotische deutsche Gesinnung ist sehr an ihnen zu loben, nur daß
sie einen einseitigen Charakter an sich trägt; wie sie die Gegenwart ganz
und gar nach besondern Interessen beurtheilt, so ist sie gegen manche
Seite der Vergangenheit wahrhaft ungerecht. Alles Gewicht wird auf
die Einheit des deutschen Reiches gelegt. Aber so nothwendig und erfreu¬
lich es sein mag, dem particularischen Interesse der Deutschen ein allge¬
meines entgegenzustellen und dies mit aller Energie in dem Gewoge der
Meinungen geltend zu machen, so wenig kann man es gut heißen, wenn
nur den Repräsentanten der deutschen Einheit, den Kaisern nämlich, alle
Vorliebe zugewandt und alles Recht zugeschrieben, den Entwickelungen
dagegen der Stamme und Fürstenthümer nur Ungunst und hartes Urtheil
gezeigt wird."

Zur Beurtheilung dieses Beurtheilers darf man nicht vergessen, daß
Herr Waitz ein geborner Preuße und aus der ranke'sehen Schule ist.


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[0140] Überlegen an Geist und wahrhaft historischem Sinn ist Gervinus, doch theilt er eine große Einseitigkeit, die mir den Heidelbergern im. Allgemeinen eigen zu sein scheint und die doch wohl auf Schlosser'sah« Anregung zurückgeführt werden muß. Ich meine das mangelnde Ver¬ ständniß für die unermeßliche Bedeutung des Christenthums, überhaupt das Zurücktreten des religiösen Elements in der Geschichte. Nirgends! liegt sie starker am Tage als in der Historik von Gervinus, wo er in allem Ernste die Epoche der neuen Geschichte in dem Auftreten des. So- krates, in der Erweiterung des historischen Schauplatzes durch die Erobe¬ rungen Alexanders findet, unbekümmert um die völlige Umgestaltung/ welche die Welt vornehmlich durch das Christenthum, sodann durch das Austreten der Germanen und das Eindringen der christlichen Lehre in die germanische Welt erhalten hat. Auch die Geschichte der poetischen Natio¬ nalliteratur der Deutschen liefert von solcher Ansicht mannichfache Belege. Eben ganz und gar nicht mittelalterig ist der Sinn von Gervinus und auch das Verständniß der Zeit geht ihm doch in manchen Beziehungen ab; wahrend es vortrefflich ist, wo er die Bewegungen der neuern Zeit in ihrem Reichthum und in ihrer Mannichfaltigkeit schildert .... Carl Hagen unterscheidet sich von vielen seiner College» namentlich durch klare und angenehme Form; sein interessantes Buch über die Reforma¬ tion bietet hierzu die schlagendsten Belege..... Hauffer ist nach frühern unglücklichen oder minder bedeutenden Arbeiten mit der ausführ¬ lichen Geschichte der rheinischen Pfalz hervorgetreten, ein Buch, an dem Fleiß und eine lesbare Darstellung gerühmt werden muß und das man gern den bessern Provinzialgeschichten zur Seite stellen wird, wenn es gleich zu den höhern Stufen geschichtlicher Forschung sich nicht erhebt. Erwähnen muß ich es hauptsächlich, weil es schon jener sogenannten ghibellinischen Ansicht angehört, welche eine andere Klasse süddeutscher Historiker recht eigentlich charakterisirt, die Würtenberger vornehmlich und die anderswo ihycn sich anschließen. Man möchte sie die Historiker des Zollvereinsblattes und der allgemeinen Zeitung nen-. nen, mit denen sie innerlich und äußerlich nahe zusammenhängen. Denn eine patriotische deutsche Gesinnung ist sehr an ihnen zu loben, nur daß sie einen einseitigen Charakter an sich trägt; wie sie die Gegenwart ganz und gar nach besondern Interessen beurtheilt, so ist sie gegen manche Seite der Vergangenheit wahrhaft ungerecht. Alles Gewicht wird auf die Einheit des deutschen Reiches gelegt. Aber so nothwendig und erfreu¬ lich es sein mag, dem particularischen Interesse der Deutschen ein allge¬ meines entgegenzustellen und dies mit aller Energie in dem Gewoge der Meinungen geltend zu machen, so wenig kann man es gut heißen, wenn nur den Repräsentanten der deutschen Einheit, den Kaisern nämlich, alle Vorliebe zugewandt und alles Recht zugeschrieben, den Entwickelungen dagegen der Stamme und Fürstenthümer nur Ungunst und hartes Urtheil gezeigt wird." Zur Beurtheilung dieses Beurtheilers darf man nicht vergessen, daß Herr Waitz ein geborner Preuße und aus der ranke'sehen Schule ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/140>, abgerufen am 24.07.2024.