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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band.

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wohin "der stattliche Junker" das Mädchen durch den Wachtelschlag
rief; ferner im Garten selbst die Stelle, wo des Pfarrers Tochter ihr
Kind mit der goldenen Nadel umbrachte, --

("Da ist ein Plätzchen, da wächst kein Gras,
Das wird vom Thsu und vom Regen nicht naß")

und in einiger Entfernung der Unkcnteich, neben dem die Kindesmör¬
derin gerichtet wurde. Alles dieses wissen aber nur die Harzreisenden;
dem Volke in jener Gegend ist eine Sage, welche Bürger in seiner Bal¬
lade etwa bearbeitet haben könnte, nicht bekannt. Und er hat auch in
derselben keine Sage erzählt, sondern nur ein Stück Dichtung und
Wahrheit geschrieben. Folgendes hörte ich von einer wohlunterrichteten
Dame:

"Der Pfarrer von Pansfelde hatte zwei Töchter, die er jeden Sonn¬
tag mit auf den Falkenstein nahm, wo er in der kleinen, lieblichen Schloß-
capelle predigen mußte. Das war nicht klug von ihm: denn es dauerte
nicht lange, so verführte ihm der Junker eine derselben. Da hatte er
nun auf einmal eine Wiege im Hause stehen: davon wird der Bürger
wohl erfahren haben; er harte ja als Kind oft genug mit den Madchen
gespielt."

Wie, Großmutter! so unterbrach ich hier die Matrone, welche mir
das an einem regnerischen Nachmittage in ihrem traulichen Stübchen
erzählte, und welche mir gütigst meine Indiscretion verzeihen wolle, wenn
nach einem halben Jahre der sondershauser Bücherbote mit diesem Ar¬
tikel in ihr eingeschneites Harzdorf kommt .... wie? sie hat das
Knäblein nicht gleich mit der goldenen Nadel umgebracht?

"El bei Leibe nicht, mein liebes Kind! Wo denkst Du hin! Cou¬
sine He...----! Nun ja, ihre Schwester hab' ich recht gut gekannt.
Wir nannten uns immer Cousinen. Ich weiß aber wirklich nicht ein¬
mal warum, und Du brauchst nicht etwa zu denken, daß wir mit de¬
nen verwandt zusammen sind. Die Andre ist mit ihrem Sohne nach Aschersleben
gezogen. Der hat seine Mutter auf ihre alten Tage ernährt, ist ein
ehrsamer Bürger geworden und mag wohl heute noch leben. Nein, was
wahr ist, das muß wahr bleiben: umgebracht hat sie ihn nicht. Das
kann man ihr nicht nachsagen, das hat eine Andre gethan."

Eine Andre? fragte ich?

"Nun ja, freilich eine Andre. Sie war aus Molmerswende selbst,
und mit Bürger Nachbarskind zusammen. Die ist spater eine Kindes¬
mörderin geworden. Gerichtet ist sie auch; ob aber gerade am Unken¬
teiche, das weiß ich nicht."

Von diesen beiden Vorfällen hat Bürger den Stoss zu seiner Bal¬
lade hergenommen, in der er so sehr den Volkston getroffen, daß man
sie bisher allgemein für die Erzählung einer alten Volkssage genommen
hat.

Ueber Bürger erfuhr ich aus jenem literarhistorischen Gespräche mit
meiner Großmutter noch Folgendes: Sie hatte ein Mal auf Schloß
Rammelburg im Fenster gestanden, als er mit seinem Freunde, dem Epi¬
steldichter Göckingk (dem Großoheim Mar Stirners und dem Landsmann


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wohin „der stattliche Junker" das Mädchen durch den Wachtelschlag
rief; ferner im Garten selbst die Stelle, wo des Pfarrers Tochter ihr
Kind mit der goldenen Nadel umbrachte, —

(„Da ist ein Plätzchen, da wächst kein Gras,
Das wird vom Thsu und vom Regen nicht naß")

und in einiger Entfernung der Unkcnteich, neben dem die Kindesmör¬
derin gerichtet wurde. Alles dieses wissen aber nur die Harzreisenden;
dem Volke in jener Gegend ist eine Sage, welche Bürger in seiner Bal¬
lade etwa bearbeitet haben könnte, nicht bekannt. Und er hat auch in
derselben keine Sage erzählt, sondern nur ein Stück Dichtung und
Wahrheit geschrieben. Folgendes hörte ich von einer wohlunterrichteten
Dame:

„Der Pfarrer von Pansfelde hatte zwei Töchter, die er jeden Sonn¬
tag mit auf den Falkenstein nahm, wo er in der kleinen, lieblichen Schloß-
capelle predigen mußte. Das war nicht klug von ihm: denn es dauerte
nicht lange, so verführte ihm der Junker eine derselben. Da hatte er
nun auf einmal eine Wiege im Hause stehen: davon wird der Bürger
wohl erfahren haben; er harte ja als Kind oft genug mit den Madchen
gespielt."

Wie, Großmutter! so unterbrach ich hier die Matrone, welche mir
das an einem regnerischen Nachmittage in ihrem traulichen Stübchen
erzählte, und welche mir gütigst meine Indiscretion verzeihen wolle, wenn
nach einem halben Jahre der sondershauser Bücherbote mit diesem Ar¬
tikel in ihr eingeschneites Harzdorf kommt .... wie? sie hat das
Knäblein nicht gleich mit der goldenen Nadel umgebracht?

„El bei Leibe nicht, mein liebes Kind! Wo denkst Du hin! Cou¬
sine He...----! Nun ja, ihre Schwester hab' ich recht gut gekannt.
Wir nannten uns immer Cousinen. Ich weiß aber wirklich nicht ein¬
mal warum, und Du brauchst nicht etwa zu denken, daß wir mit de¬
nen verwandt zusammen sind. Die Andre ist mit ihrem Sohne nach Aschersleben
gezogen. Der hat seine Mutter auf ihre alten Tage ernährt, ist ein
ehrsamer Bürger geworden und mag wohl heute noch leben. Nein, was
wahr ist, das muß wahr bleiben: umgebracht hat sie ihn nicht. Das
kann man ihr nicht nachsagen, das hat eine Andre gethan."

Eine Andre? fragte ich?

„Nun ja, freilich eine Andre. Sie war aus Molmerswende selbst,
und mit Bürger Nachbarskind zusammen. Die ist spater eine Kindes¬
mörderin geworden. Gerichtet ist sie auch; ob aber gerade am Unken¬
teiche, das weiß ich nicht."

Von diesen beiden Vorfällen hat Bürger den Stoss zu seiner Bal¬
lade hergenommen, in der er so sehr den Volkston getroffen, daß man
sie bisher allgemein für die Erzählung einer alten Volkssage genommen
hat.

Ueber Bürger erfuhr ich aus jenem literarhistorischen Gespräche mit
meiner Großmutter noch Folgendes: Sie hatte ein Mal auf Schloß
Rammelburg im Fenster gestanden, als er mit seinem Freunde, dem Epi¬
steldichter Göckingk (dem Großoheim Mar Stirners und dem Landsmann


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[0135] wohin „der stattliche Junker" das Mädchen durch den Wachtelschlag rief; ferner im Garten selbst die Stelle, wo des Pfarrers Tochter ihr Kind mit der goldenen Nadel umbrachte, — („Da ist ein Plätzchen, da wächst kein Gras, Das wird vom Thsu und vom Regen nicht naß") und in einiger Entfernung der Unkcnteich, neben dem die Kindesmör¬ derin gerichtet wurde. Alles dieses wissen aber nur die Harzreisenden; dem Volke in jener Gegend ist eine Sage, welche Bürger in seiner Bal¬ lade etwa bearbeitet haben könnte, nicht bekannt. Und er hat auch in derselben keine Sage erzählt, sondern nur ein Stück Dichtung und Wahrheit geschrieben. Folgendes hörte ich von einer wohlunterrichteten Dame: „Der Pfarrer von Pansfelde hatte zwei Töchter, die er jeden Sonn¬ tag mit auf den Falkenstein nahm, wo er in der kleinen, lieblichen Schloß- capelle predigen mußte. Das war nicht klug von ihm: denn es dauerte nicht lange, so verführte ihm der Junker eine derselben. Da hatte er nun auf einmal eine Wiege im Hause stehen: davon wird der Bürger wohl erfahren haben; er harte ja als Kind oft genug mit den Madchen gespielt." Wie, Großmutter! so unterbrach ich hier die Matrone, welche mir das an einem regnerischen Nachmittage in ihrem traulichen Stübchen erzählte, und welche mir gütigst meine Indiscretion verzeihen wolle, wenn nach einem halben Jahre der sondershauser Bücherbote mit diesem Ar¬ tikel in ihr eingeschneites Harzdorf kommt .... wie? sie hat das Knäblein nicht gleich mit der goldenen Nadel umgebracht? „El bei Leibe nicht, mein liebes Kind! Wo denkst Du hin! Cou¬ sine He...----! Nun ja, ihre Schwester hab' ich recht gut gekannt. Wir nannten uns immer Cousinen. Ich weiß aber wirklich nicht ein¬ mal warum, und Du brauchst nicht etwa zu denken, daß wir mit de¬ nen verwandt zusammen sind. Die Andre ist mit ihrem Sohne nach Aschersleben gezogen. Der hat seine Mutter auf ihre alten Tage ernährt, ist ein ehrsamer Bürger geworden und mag wohl heute noch leben. Nein, was wahr ist, das muß wahr bleiben: umgebracht hat sie ihn nicht. Das kann man ihr nicht nachsagen, das hat eine Andre gethan." Eine Andre? fragte ich? „Nun ja, freilich eine Andre. Sie war aus Molmerswende selbst, und mit Bürger Nachbarskind zusammen. Die ist spater eine Kindes¬ mörderin geworden. Gerichtet ist sie auch; ob aber gerade am Unken¬ teiche, das weiß ich nicht." Von diesen beiden Vorfällen hat Bürger den Stoss zu seiner Bal¬ lade hergenommen, in der er so sehr den Volkston getroffen, daß man sie bisher allgemein für die Erzählung einer alten Volkssage genommen hat. Ueber Bürger erfuhr ich aus jenem literarhistorischen Gespräche mit meiner Großmutter noch Folgendes: Sie hatte ein Mal auf Schloß Rammelburg im Fenster gestanden, als er mit seinem Freunde, dem Epi¬ steldichter Göckingk (dem Großoheim Mar Stirners und dem Landsmann S'r-»zbot«n. III. I«-i<Z. 17

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_183020/135>, abgerufen am 24.07.2024.