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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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sehen Sittlichkeit uns nicht aufklären dürfen, so ziehen wir auch einen
Schleier über viele geringfügigere Dinge und wiegen uns in süßer
moralischer Selbsttäuschung.

Da ist zum Beispiel das kleine Wort Reclame, wofür wir im
Deutschen keine Uebersetzung haben. Fehlt uns vielleicht die Sache
selbst und haben wir deswegen keinen Namen dafür? Wir wollen
sehen. Ein Verleger kündigt ein so eben bei ihm erschienenes Buch
an. Nach dem Titel und dem Preise folgt gewöhnlich ein Lobhudel
über den Inhalt. Dieser ist die Reclame. Aber das französische
Publicum würde es für eine Beleidigung halten, wenn man ihm
eine so plumpe Kritik aufdringen wollte, die offenbar von dem Ver¬
leger, von dem ersten Commis, von dem Corrector oder von dem
Autor selbst verfaßt worden ist. Die Ankündigung muß also getheilt
werden; Titel und Preis des Buches kommen unter die Altonaer
auf der Rückseite des Journals, der Lobhudel aber kömmt unter die
Neclamen, d. h. ins Journal selbst unter seinen letzten Notizen.
Auf diese Weise ist dem Schicklichkeitsgefühl Genüge gethan. Jeder
Leser weiß, daß dies die herkömmliche Reclame ist, aber er hat zu¬
gleich die Genugthuung, daß man sich die Mühe giebt, ihn glauben
zu machen, die Notiz ginge von dem Journal selbst aus. Der
deutsche Verleger, der deutsche Autor trachtet zwar auch, solche No¬
tizen in die Journale zu bringen, allein da diese Notizen bei uns
keinen Gattungsnamen haben, so glaubt das Publicum viel andäch¬
tiger daran und ist gefoppt. Wenn ein französischer Leser die Nach¬
richt liest: das neue Stück des Herren X. A. Z. wird kaum vor
sechs Wochen zur Aufführung kommen können, weil die Dekorationen
von solcher Pracht sind, daß die Arbeit nicht früher fertig werden
kann -- fo weiß er gleich: das ist eine Reclame. Liest man aber
in deutschen Blättern: Das neue Stück des Herrn A. B. C. soll
"dem Vernehmen nach" verboten worden sein -- so nimmt der Leser
dies auf Treu und Glauben an, stürzt bei der ersten Aufführung ins
Theater, und weiß nicht, wieso er getäuscht worden. Die Berliner
namentlich sind Meister in der Reclame. Es giebt fast keine Kor¬
respondenz von dort her, in welcher nicht dem Publicum eine kleine
Nase gedreht wird. Nichtsdestoweniger ist unsere Sprache zu züchtig,
um für diese Taschensvielerei einen bestimmten Ausdruck zu fassen,
und Freund Michel bezahlt diese Iüchtigkeit, ohne dadurch an Moral
gewonnen zu haben. Bei unsern überrheinischen Nachbaren ist übri¬
gens die Reclame dadurch, daß sie Jedermann unter ihrer Maske
erkennt, so abgenützt, daß kein Mensch mehr anbeißen will und die
Verleger und andere Unternehmer bereits zu andern Mitteln ihre Zu¬
flucht nehmen müssen. Wir wollen ein kleines Beispiel erzählen.
--

Vor Kurzem -- erzählte uns ein gewisser Bekannter befand
ich mich in einer Abendgesellschaft in einem liebenswürdigen Hause.


sehen Sittlichkeit uns nicht aufklären dürfen, so ziehen wir auch einen
Schleier über viele geringfügigere Dinge und wiegen uns in süßer
moralischer Selbsttäuschung.

Da ist zum Beispiel das kleine Wort Reclame, wofür wir im
Deutschen keine Uebersetzung haben. Fehlt uns vielleicht die Sache
selbst und haben wir deswegen keinen Namen dafür? Wir wollen
sehen. Ein Verleger kündigt ein so eben bei ihm erschienenes Buch
an. Nach dem Titel und dem Preise folgt gewöhnlich ein Lobhudel
über den Inhalt. Dieser ist die Reclame. Aber das französische
Publicum würde es für eine Beleidigung halten, wenn man ihm
eine so plumpe Kritik aufdringen wollte, die offenbar von dem Ver¬
leger, von dem ersten Commis, von dem Corrector oder von dem
Autor selbst verfaßt worden ist. Die Ankündigung muß also getheilt
werden; Titel und Preis des Buches kommen unter die Altonaer
auf der Rückseite des Journals, der Lobhudel aber kömmt unter die
Neclamen, d. h. ins Journal selbst unter seinen letzten Notizen.
Auf diese Weise ist dem Schicklichkeitsgefühl Genüge gethan. Jeder
Leser weiß, daß dies die herkömmliche Reclame ist, aber er hat zu¬
gleich die Genugthuung, daß man sich die Mühe giebt, ihn glauben
zu machen, die Notiz ginge von dem Journal selbst aus. Der
deutsche Verleger, der deutsche Autor trachtet zwar auch, solche No¬
tizen in die Journale zu bringen, allein da diese Notizen bei uns
keinen Gattungsnamen haben, so glaubt das Publicum viel andäch¬
tiger daran und ist gefoppt. Wenn ein französischer Leser die Nach¬
richt liest: das neue Stück des Herren X. A. Z. wird kaum vor
sechs Wochen zur Aufführung kommen können, weil die Dekorationen
von solcher Pracht sind, daß die Arbeit nicht früher fertig werden
kann — fo weiß er gleich: das ist eine Reclame. Liest man aber
in deutschen Blättern: Das neue Stück des Herrn A. B. C. soll
„dem Vernehmen nach" verboten worden sein — so nimmt der Leser
dies auf Treu und Glauben an, stürzt bei der ersten Aufführung ins
Theater, und weiß nicht, wieso er getäuscht worden. Die Berliner
namentlich sind Meister in der Reclame. Es giebt fast keine Kor¬
respondenz von dort her, in welcher nicht dem Publicum eine kleine
Nase gedreht wird. Nichtsdestoweniger ist unsere Sprache zu züchtig,
um für diese Taschensvielerei einen bestimmten Ausdruck zu fassen,
und Freund Michel bezahlt diese Iüchtigkeit, ohne dadurch an Moral
gewonnen zu haben. Bei unsern überrheinischen Nachbaren ist übri¬
gens die Reclame dadurch, daß sie Jedermann unter ihrer Maske
erkennt, so abgenützt, daß kein Mensch mehr anbeißen will und die
Verleger und andere Unternehmer bereits zu andern Mitteln ihre Zu¬
flucht nehmen müssen. Wir wollen ein kleines Beispiel erzählen.

Vor Kurzem — erzählte uns ein gewisser Bekannter befand
ich mich in einer Abendgesellschaft in einem liebenswürdigen Hause.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/606>, abgerufen am 23.12.2024.