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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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Glückes sitzen läßt. Deutschland und England sind natürlich die pha¬
risäischen Freunde, die mit heuchlerischen Mitleid kommen und fra¬
gen: Wo sind denn deine Schiffe, deine Maschinen oder Kunst¬
werke? Darauf sagt Michelet: Ich will statt ihrer antworten, laßt
die arme France in Frieden. Seht, sie ist zum Bettler geworden,
denn sie hat ihr Hab und Gut für die Menschheit geopfert! Sie
ist blaß, denn sie hat all ihr Blut für Euch verspritzt, und als sie
nichts mehr hatte, gab sie sogar ihre "Seele" hin, "et esse, <j"- <i>wi
vo"5 viveü!" -- !-- Amen!

Es wäre sehr Schade, wenn sich die deutsche Buchhändlerindu¬
strie in ihrer Blindheit auf das Büchlein würfe und es übersetzen
ließe; denn es ist ganz geeignet, einen zum Franzosenfresser zu ma¬
chen, namentlich wenn man nicht wu'ß, welch ein Anachronismus Mi¬
chelet mit seinem >" >">"s>I>; im heutigen Frankreich ist, das gerade an¬
fangt, toleranter und gerechter gegen das Ausland zu werden, als
jemals. Michelet besitzt eine starke Dosis Coquetterie. Vor ungefähr
einem xJahre sah ihn Schreiber dieser Zeilen zum ersten Male von An¬
gesicht. Damals war gerade seine Brochüre gegen die Jesuiten er¬
schienen. Der edle Professor spielte d.in Tiefsinnigen, den Philosophen,
über alles Journallob hoch Erhabenen. Ich kümmere mich nicht um
das was die Zeitungen über mich schreiben; ich lese sie gir nicht,
bemerkte er. -- So eben, sagte ich darauf, habe ich in der Revue
de . . . über Ihre Schrift einen langen Artikel gesehen... -- ^,-t-iI
ilvj-l i>!un? (Ist er schon erschienen?) fiel Michelet mir ins Wort. --
Wie voriges Jahr die Jesuiten, so wollte er diesmal die Nationali¬
tät ausbeuten. Allein die Speculation war falsch, Herr Michelet hat
so dick aufgetragen, daß selbst Srockfranzoscn stutzig wurden; die crasse
Buhlerei um einen Fetzen Popularität war> zu offenbar. Abgesehen
von dem obligaten Beifall in zwei, drei Cliquenblättem ist lo püuplu
ziemlich spurlos vorübergegangen. Ich hätte das Buch gar nicht er¬
wähnt, aber da einige deutsche Zeitungscorrcspondenten es mit so un¬
verdienter Wichtigkeit behandelt haben, so glaubt man am Ende jen¬
seits des Rheins, der gewaltige Professor marschire bereits an der
Spitze von ein paar hunderttausend Weltbefceiern auf Kehl und Frei¬
burg los, und ohne ein Halbdutzend Nicolaus Beckers werde man
ihn nicht bändigen können. Aber es hat keine Noth damit. Im
Grunde der Seele halten die Meisten, die ihn kennen, den Herrn
Michelet für einen melancholischen Farceur.

Ueberhaupt, seit Staatspapiere und Actien die allgemeine Leiden¬
schaft geworden sind, hat die übrige Papierwelt, Literatur und Jour¬
nalistik, viel von ihrer unmittelbaren, rasch zündenden Macht verlo¬
ren. Vielleicht hat auch das sein Gutes. Wahrend die literarische
Industrie keuchend der Minute nachrennt, wird die bessere Literatur


er die psuvi-v I'ritnev als Hiob auf den Trümmern ihres irdischen
Glückes sitzen läßt. Deutschland und England sind natürlich die pha¬
risäischen Freunde, die mit heuchlerischen Mitleid kommen und fra¬
gen: Wo sind denn deine Schiffe, deine Maschinen oder Kunst¬
werke? Darauf sagt Michelet: Ich will statt ihrer antworten, laßt
die arme France in Frieden. Seht, sie ist zum Bettler geworden,
denn sie hat ihr Hab und Gut für die Menschheit geopfert! Sie
ist blaß, denn sie hat all ihr Blut für Euch verspritzt, und als sie
nichts mehr hatte, gab sie sogar ihre „Seele" hin, „et esse, <j«- <i>wi
vo»5 viveü!" — !— Amen!

Es wäre sehr Schade, wenn sich die deutsche Buchhändlerindu¬
strie in ihrer Blindheit auf das Büchlein würfe und es übersetzen
ließe; denn es ist ganz geeignet, einen zum Franzosenfresser zu ma¬
chen, namentlich wenn man nicht wu'ß, welch ein Anachronismus Mi¬
chelet mit seinem >« >»>»s>I>; im heutigen Frankreich ist, das gerade an¬
fangt, toleranter und gerechter gegen das Ausland zu werden, als
jemals. Michelet besitzt eine starke Dosis Coquetterie. Vor ungefähr
einem xJahre sah ihn Schreiber dieser Zeilen zum ersten Male von An¬
gesicht. Damals war gerade seine Brochüre gegen die Jesuiten er¬
schienen. Der edle Professor spielte d.in Tiefsinnigen, den Philosophen,
über alles Journallob hoch Erhabenen. Ich kümmere mich nicht um
das was die Zeitungen über mich schreiben; ich lese sie gir nicht,
bemerkte er. — So eben, sagte ich darauf, habe ich in der Revue
de . . . über Ihre Schrift einen langen Artikel gesehen... — ^,-t-iI
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Wie voriges Jahr die Jesuiten, so wollte er diesmal die Nationali¬
tät ausbeuten. Allein die Speculation war falsch, Herr Michelet hat
so dick aufgetragen, daß selbst Srockfranzoscn stutzig wurden; die crasse
Buhlerei um einen Fetzen Popularität war> zu offenbar. Abgesehen
von dem obligaten Beifall in zwei, drei Cliquenblättem ist lo püuplu
ziemlich spurlos vorübergegangen. Ich hätte das Buch gar nicht er¬
wähnt, aber da einige deutsche Zeitungscorrcspondenten es mit so un¬
verdienter Wichtigkeit behandelt haben, so glaubt man am Ende jen¬
seits des Rheins, der gewaltige Professor marschire bereits an der
Spitze von ein paar hunderttausend Weltbefceiern auf Kehl und Frei¬
burg los, und ohne ein Halbdutzend Nicolaus Beckers werde man
ihn nicht bändigen können. Aber es hat keine Noth damit. Im
Grunde der Seele halten die Meisten, die ihn kennen, den Herrn
Michelet für einen melancholischen Farceur.

Ueberhaupt, seit Staatspapiere und Actien die allgemeine Leiden¬
schaft geworden sind, hat die übrige Papierwelt, Literatur und Jour¬
nalistik, viel von ihrer unmittelbaren, rasch zündenden Macht verlo¬
ren. Vielleicht hat auch das sein Gutes. Wahrend die literarische
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/553>, abgerufen am 23.12.2024.