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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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daß mehrere und zwar die bösartigsten Gattungen derselben ganz
verschwunden oder pathologische Raritäten geworden sind, z. B. die
Tanzwuth des Mittelalters, das wirkliche, Heimweh und verschie¬
dene Arten localer Krämpfe.

Man sagt, die Keime der Geisteskrankheiten, hätten sich, durch
die Ueberreizung der Leidenschaften und unmäßige Anstrengung der
Verstandesorgane in neuerer Zeit stärker entwickelt und man beruft
sich außerdem auf die überall steigende Anzahl der Irrenhäuser wie
auf das Zeugniß Esquirol's, einer der größten Autoritäten in die¬
sem Fache. In Bezug auf die Ursachen und Quellen der Geistes¬
krankheiten aber bemerkt Marr in seiner schönen Denkschrift, man
habe Unrecht, die Geistesstörungen der Uebung geistiger Fähigkeiten
zuzuschreiben. Nur die falsche Geistesentwicklung führe ins Ir¬
renhaus. Je zahlreicher und besser in einem Lande die Unterrichts¬
anstalten wären, desto seltener wären die Wahnsinnigen.-i-) Die
Unthätigkeit der Geistesorgane störe dieselben häufiger als die Thä¬
tigkeit. Man sehe ja, daß der Wahnsinn am seltensten bei wissen¬
schaftlichen Menschen aufbreche, nämlich bei solchen die mit. Mä¬
ßigung arbeiten. Die eigentliche Quelle des Wahnsinns seien Lei¬
denschaften und Glückswechsel, deren moralische Wirkung zu Neu¬
tralismen geistige Ausbildung das sicherste Mittel sei.

Die steigende Anzahl der Irrenhäuser beweist blos, daß wir
erstens humaner geworden sind, und zweitens, daß wir heutzutage
mehr Vertrauen zur Heilkunst haben. Sonst verbarg man die Un¬
glücklichen die den Verstand verloren hatten, in 'dunkeln Kam¬
mern und Kellern, wohin kein Auge drang; jetzt bringt man sie
in zweckmäßigen Anstalten unter. Sonst unterwarf man sie selten
einer ärtztlichen Behandlung, aber seit man erfahren hat, wieviel
die Medicin gegen den Wahnsinn vermöge, beeilt man sich, gleich
bei den ersten Symptomen des Jrrseins, die Kunst zu Hilfe zu ru¬
fen. Eine Masse von Individuen, Hypochondrische, Melancholiker
und excentrische Leute, die sonst frei herumgingen, behandelt man
heutzutage als Geisteskranke, abgesehen von jenen Verbrechern, die
man sonst mit Rad und Galgen kurirte, während die humanere



*) Ebeß, medicinische Topographie von Stuttgart.

daß mehrere und zwar die bösartigsten Gattungen derselben ganz
verschwunden oder pathologische Raritäten geworden sind, z. B. die
Tanzwuth des Mittelalters, das wirkliche, Heimweh und verschie¬
dene Arten localer Krämpfe.

Man sagt, die Keime der Geisteskrankheiten, hätten sich, durch
die Ueberreizung der Leidenschaften und unmäßige Anstrengung der
Verstandesorgane in neuerer Zeit stärker entwickelt und man beruft
sich außerdem auf die überall steigende Anzahl der Irrenhäuser wie
auf das Zeugniß Esquirol's, einer der größten Autoritäten in die¬
sem Fache. In Bezug auf die Ursachen und Quellen der Geistes¬
krankheiten aber bemerkt Marr in seiner schönen Denkschrift, man
habe Unrecht, die Geistesstörungen der Uebung geistiger Fähigkeiten
zuzuschreiben. Nur die falsche Geistesentwicklung führe ins Ir¬
renhaus. Je zahlreicher und besser in einem Lande die Unterrichts¬
anstalten wären, desto seltener wären die Wahnsinnigen.-i-) Die
Unthätigkeit der Geistesorgane störe dieselben häufiger als die Thä¬
tigkeit. Man sehe ja, daß der Wahnsinn am seltensten bei wissen¬
schaftlichen Menschen aufbreche, nämlich bei solchen die mit. Mä¬
ßigung arbeiten. Die eigentliche Quelle des Wahnsinns seien Lei¬
denschaften und Glückswechsel, deren moralische Wirkung zu Neu¬
tralismen geistige Ausbildung das sicherste Mittel sei.

Die steigende Anzahl der Irrenhäuser beweist blos, daß wir
erstens humaner geworden sind, und zweitens, daß wir heutzutage
mehr Vertrauen zur Heilkunst haben. Sonst verbarg man die Un¬
glücklichen die den Verstand verloren hatten, in 'dunkeln Kam¬
mern und Kellern, wohin kein Auge drang; jetzt bringt man sie
in zweckmäßigen Anstalten unter. Sonst unterwarf man sie selten
einer ärtztlichen Behandlung, aber seit man erfahren hat, wieviel
die Medicin gegen den Wahnsinn vermöge, beeilt man sich, gleich
bei den ersten Symptomen des Jrrseins, die Kunst zu Hilfe zu ru¬
fen. Eine Masse von Individuen, Hypochondrische, Melancholiker
und excentrische Leute, die sonst frei herumgingen, behandelt man
heutzutage als Geisteskranke, abgesehen von jenen Verbrechern, die
man sonst mit Rad und Galgen kurirte, während die humanere



*) Ebeß, medicinische Topographie von Stuttgart.
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[0539] daß mehrere und zwar die bösartigsten Gattungen derselben ganz verschwunden oder pathologische Raritäten geworden sind, z. B. die Tanzwuth des Mittelalters, das wirkliche, Heimweh und verschie¬ dene Arten localer Krämpfe. Man sagt, die Keime der Geisteskrankheiten, hätten sich, durch die Ueberreizung der Leidenschaften und unmäßige Anstrengung der Verstandesorgane in neuerer Zeit stärker entwickelt und man beruft sich außerdem auf die überall steigende Anzahl der Irrenhäuser wie auf das Zeugniß Esquirol's, einer der größten Autoritäten in die¬ sem Fache. In Bezug auf die Ursachen und Quellen der Geistes¬ krankheiten aber bemerkt Marr in seiner schönen Denkschrift, man habe Unrecht, die Geistesstörungen der Uebung geistiger Fähigkeiten zuzuschreiben. Nur die falsche Geistesentwicklung führe ins Ir¬ renhaus. Je zahlreicher und besser in einem Lande die Unterrichts¬ anstalten wären, desto seltener wären die Wahnsinnigen.-i-) Die Unthätigkeit der Geistesorgane störe dieselben häufiger als die Thä¬ tigkeit. Man sehe ja, daß der Wahnsinn am seltensten bei wissen¬ schaftlichen Menschen aufbreche, nämlich bei solchen die mit. Mä¬ ßigung arbeiten. Die eigentliche Quelle des Wahnsinns seien Lei¬ denschaften und Glückswechsel, deren moralische Wirkung zu Neu¬ tralismen geistige Ausbildung das sicherste Mittel sei. Die steigende Anzahl der Irrenhäuser beweist blos, daß wir erstens humaner geworden sind, und zweitens, daß wir heutzutage mehr Vertrauen zur Heilkunst haben. Sonst verbarg man die Un¬ glücklichen die den Verstand verloren hatten, in 'dunkeln Kam¬ mern und Kellern, wohin kein Auge drang; jetzt bringt man sie in zweckmäßigen Anstalten unter. Sonst unterwarf man sie selten einer ärtztlichen Behandlung, aber seit man erfahren hat, wieviel die Medicin gegen den Wahnsinn vermöge, beeilt man sich, gleich bei den ersten Symptomen des Jrrseins, die Kunst zu Hilfe zu ru¬ fen. Eine Masse von Individuen, Hypochondrische, Melancholiker und excentrische Leute, die sonst frei herumgingen, behandelt man heutzutage als Geisteskranke, abgesehen von jenen Verbrechern, die man sonst mit Rad und Galgen kurirte, während die humanere *) Ebeß, medicinische Topographie von Stuttgart.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/539>, abgerufen am 02.09.2024.