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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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Kleinasien zu uns gekommen, die Rötheln aus dem hohen Norden
Europas im siebenten Jahrhundert; längst spielen beide keine große
Rolle mehr in unsern Todtenlisten. Die Syphilis ist nicht nur sel¬
tener, sondern auch gutartiger geworden, so daß ihre bösartigsten
Formen nur aus Schriften des 16. und 17. Jahrhunderts noch
bekannt sind. Die Militair-Augenkrankheit ist durch die belgische
Militairmedicin auf ihren jetzigen Stand reducirt worden.

Unter den andern Krankheiten, die weder ein besonderes Ge¬
burtsland noch eine bekannte Entstehungszeit haben, wollen wir
vorerst die Wechselfieber betrachten. Haben sie nicht seit dem Ge¬
brauch der Chinarinde beinahe ihre ganze Furchtbarkeit verloren?
Skropheln und englische Krankheit sind gewiß viel seltener gewor¬
den, seit man sie zweckmäßiger behandelt und vor allem, seit man
in den Wohnungen mehr Licht und Luft zuläßt. Der echte Scor-
but ist eine medicinische Rarität geworden. Der scharf ausge¬
sprochene Scorbut, sagt Andral, ist in Paris so selten, daß ich
lange über den Zustand des Blutes bei Scorbutkranken nur Con-
jecturen machen konnte. Seit langer Zeit hat man in der engli¬
schen Marine nicht einen einzigen Scorbutfall mehr gehabt und
"wer diese Krankheit studiren will," sagt Marr, "muß sie in Bü¬
chern suchen, oder in Ländern die den Wohlthaten der Civilisation
verschlossen sind."

Aber man wird uns die Lungenschwindsucht, die Nervenkrank¬
heiten, die Hirnerweichung, Hypochondrie, Hysterie, Schlagflüsse,
Nückenmarksdarre und endlich die Geisteskrankheiten entgegenhalten.

Wir sind weit entfernt, behaupten zu wollen, daß es jemals
durch den Fortschritt der Heilkunst und Gesundheitslehre gelingen
werde, alle diese Krankheiten auszurotten) wir läugnen sogar nicht,
daß manche darunter neuerdings wirklich häufiger geworden sind.
Aber ihre Zunahme ist lange nicht so groß als man denkt, und
was einzelne davon betrifft, so ist man über sie im größten Irr¬
thume. Die Statistik ist in dieser Beziehung noch ziemlich unvollkom¬
men Die Todtenlisten erlauben nie einen richtigen Schluß auf die
Anzahl derjenigen, die von einer gewissen Krankheit befallen wor¬
den sind.. Man steht nur aus ihnen, daß unter tausend Gestorbe¬
nen in dem oder jenem Jahre so und so viel Lungensüchtige, Apo-
plektische oder Typhuskranke waren; die Zahl der Geheilten aber


Kleinasien zu uns gekommen, die Rötheln aus dem hohen Norden
Europas im siebenten Jahrhundert; längst spielen beide keine große
Rolle mehr in unsern Todtenlisten. Die Syphilis ist nicht nur sel¬
tener, sondern auch gutartiger geworden, so daß ihre bösartigsten
Formen nur aus Schriften des 16. und 17. Jahrhunderts noch
bekannt sind. Die Militair-Augenkrankheit ist durch die belgische
Militairmedicin auf ihren jetzigen Stand reducirt worden.

Unter den andern Krankheiten, die weder ein besonderes Ge¬
burtsland noch eine bekannte Entstehungszeit haben, wollen wir
vorerst die Wechselfieber betrachten. Haben sie nicht seit dem Ge¬
brauch der Chinarinde beinahe ihre ganze Furchtbarkeit verloren?
Skropheln und englische Krankheit sind gewiß viel seltener gewor¬
den, seit man sie zweckmäßiger behandelt und vor allem, seit man
in den Wohnungen mehr Licht und Luft zuläßt. Der echte Scor-
but ist eine medicinische Rarität geworden. Der scharf ausge¬
sprochene Scorbut, sagt Andral, ist in Paris so selten, daß ich
lange über den Zustand des Blutes bei Scorbutkranken nur Con-
jecturen machen konnte. Seit langer Zeit hat man in der engli¬
schen Marine nicht einen einzigen Scorbutfall mehr gehabt und
„wer diese Krankheit studiren will," sagt Marr, „muß sie in Bü¬
chern suchen, oder in Ländern die den Wohlthaten der Civilisation
verschlossen sind."

Aber man wird uns die Lungenschwindsucht, die Nervenkrank¬
heiten, die Hirnerweichung, Hypochondrie, Hysterie, Schlagflüsse,
Nückenmarksdarre und endlich die Geisteskrankheiten entgegenhalten.

Wir sind weit entfernt, behaupten zu wollen, daß es jemals
durch den Fortschritt der Heilkunst und Gesundheitslehre gelingen
werde, alle diese Krankheiten auszurotten) wir läugnen sogar nicht,
daß manche darunter neuerdings wirklich häufiger geworden sind.
Aber ihre Zunahme ist lange nicht so groß als man denkt, und
was einzelne davon betrifft, so ist man über sie im größten Irr¬
thume. Die Statistik ist in dieser Beziehung noch ziemlich unvollkom¬
men Die Todtenlisten erlauben nie einen richtigen Schluß auf die
Anzahl derjenigen, die von einer gewissen Krankheit befallen wor¬
den sind.. Man steht nur aus ihnen, daß unter tausend Gestorbe¬
nen in dem oder jenem Jahre so und so viel Lungensüchtige, Apo-
plektische oder Typhuskranke waren; die Zahl der Geheilten aber


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[0537] Kleinasien zu uns gekommen, die Rötheln aus dem hohen Norden Europas im siebenten Jahrhundert; längst spielen beide keine große Rolle mehr in unsern Todtenlisten. Die Syphilis ist nicht nur sel¬ tener, sondern auch gutartiger geworden, so daß ihre bösartigsten Formen nur aus Schriften des 16. und 17. Jahrhunderts noch bekannt sind. Die Militair-Augenkrankheit ist durch die belgische Militairmedicin auf ihren jetzigen Stand reducirt worden. Unter den andern Krankheiten, die weder ein besonderes Ge¬ burtsland noch eine bekannte Entstehungszeit haben, wollen wir vorerst die Wechselfieber betrachten. Haben sie nicht seit dem Ge¬ brauch der Chinarinde beinahe ihre ganze Furchtbarkeit verloren? Skropheln und englische Krankheit sind gewiß viel seltener gewor¬ den, seit man sie zweckmäßiger behandelt und vor allem, seit man in den Wohnungen mehr Licht und Luft zuläßt. Der echte Scor- but ist eine medicinische Rarität geworden. Der scharf ausge¬ sprochene Scorbut, sagt Andral, ist in Paris so selten, daß ich lange über den Zustand des Blutes bei Scorbutkranken nur Con- jecturen machen konnte. Seit langer Zeit hat man in der engli¬ schen Marine nicht einen einzigen Scorbutfall mehr gehabt und „wer diese Krankheit studiren will," sagt Marr, „muß sie in Bü¬ chern suchen, oder in Ländern die den Wohlthaten der Civilisation verschlossen sind." Aber man wird uns die Lungenschwindsucht, die Nervenkrank¬ heiten, die Hirnerweichung, Hypochondrie, Hysterie, Schlagflüsse, Nückenmarksdarre und endlich die Geisteskrankheiten entgegenhalten. Wir sind weit entfernt, behaupten zu wollen, daß es jemals durch den Fortschritt der Heilkunst und Gesundheitslehre gelingen werde, alle diese Krankheiten auszurotten) wir läugnen sogar nicht, daß manche darunter neuerdings wirklich häufiger geworden sind. Aber ihre Zunahme ist lange nicht so groß als man denkt, und was einzelne davon betrifft, so ist man über sie im größten Irr¬ thume. Die Statistik ist in dieser Beziehung noch ziemlich unvollkom¬ men Die Todtenlisten erlauben nie einen richtigen Schluß auf die Anzahl derjenigen, die von einer gewissen Krankheit befallen wor¬ den sind.. Man steht nur aus ihnen, daß unter tausend Gestorbe¬ nen in dem oder jenem Jahre so und so viel Lungensüchtige, Apo- plektische oder Typhuskranke waren; die Zahl der Geheilten aber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/537>, abgerufen am 02.09.2024.