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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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her schämt, daß also bei der legislativen wie bei der erecutorischen
Gewalt das Bewußtsein einer nothwendigen Reform sich vordrängt.

Dieses Bewußtsein, das sich jedoch zu keinem entscheidenden schö¬
pferischen Schritte entschließen kann, sucht sich mit kleiner Schei¬
demünze zu behelfen, mit zahllosen kleinen Concessionen und Aus-
nahmöregeln. Aber die kleine Münze ist allmählig zu einem an¬
sehnlichen Kapital angelaufen, die Ausnahmsmaßregeln sind zu ei¬
nem halblogischen Zwischensystem zusammengewachsen, die Con¬
cessionen haben ein buntes Zwischenreich aufgeschwemmt, in wel¬
chem es von innern Widersprüchen und heterogenen Elementen
wimmelt, das aber nichts desto weniger eine gewisse äußere Zu-
sammcnhangbarkeit hat. So locker dieser Boden ist, so' hat sich
doch eine mosaikartige Bevölkerung darauf angebaut, von der jedes
Stück für sich einer andern Gattung angehört und seinen eigenen
Gesetzen von Existenz und Nichteristenz folgt, die aber insgesammt
das Kennzeichen verbindet, daß sie sich durch Talent, Fleiß und
Reichthum allmählig diesen Boden erobert, allmählig Zugeständ¬
nisse sich errungen die bei ihrem Entstehen, bei ihrer Geburt noch
ferne lagen. Diese Mittelgesellschaft, die gleich den ersten Norman¬
nen im Land der Angelsachsen durch Muth, Thätigkeit und eine
neue Civilisation immer mehr Raum gewinnt, und gleich jenen, die
mit dem einen Fuße nach der Normandie und mit dem anderen be¬
reits in Britanien wurzelten, mit dem einen Fuß in dem Bürger-
und mit dem andern im Adelöstande stehen, diese immer wachsende
und sich mehrende Masse muß ihrer Schwerkraft zufolge allmählig
diesen durchbrechen und jenen nach sich ziehen: mit einem Worte,
dieser Mittelstand wird damit enden, Gleichmäßigkeit der Gesetze
für alle zu erringen.

Aber der Staat widersetzt sich dieser Nivellirung? Er sucht
die scharfe Trennung der Stände zu unterhalten? Warum ertheilte
er sonst alljährlich so viel neue Avisbriefe? Und sind es nicht eben
jene Individuen, die durch Talent, Fleiß und Reichthum sich zu
einer bedeutenden gesellschaftlichen Stellung emporgeschwungen, die
man durch Ertheilung des Adelödiploms von ihrem Zusammen¬
hange mit der Burgeoisie los zu lösen sucht? Liegt hier nicht die
Absicht am Tage, den Bürgerstand zu schwächen und lieber hundert


her schämt, daß also bei der legislativen wie bei der erecutorischen
Gewalt das Bewußtsein einer nothwendigen Reform sich vordrängt.

Dieses Bewußtsein, das sich jedoch zu keinem entscheidenden schö¬
pferischen Schritte entschließen kann, sucht sich mit kleiner Schei¬
demünze zu behelfen, mit zahllosen kleinen Concessionen und Aus-
nahmöregeln. Aber die kleine Münze ist allmählig zu einem an¬
sehnlichen Kapital angelaufen, die Ausnahmsmaßregeln sind zu ei¬
nem halblogischen Zwischensystem zusammengewachsen, die Con¬
cessionen haben ein buntes Zwischenreich aufgeschwemmt, in wel¬
chem es von innern Widersprüchen und heterogenen Elementen
wimmelt, das aber nichts desto weniger eine gewisse äußere Zu-
sammcnhangbarkeit hat. So locker dieser Boden ist, so' hat sich
doch eine mosaikartige Bevölkerung darauf angebaut, von der jedes
Stück für sich einer andern Gattung angehört und seinen eigenen
Gesetzen von Existenz und Nichteristenz folgt, die aber insgesammt
das Kennzeichen verbindet, daß sie sich durch Talent, Fleiß und
Reichthum allmählig diesen Boden erobert, allmählig Zugeständ¬
nisse sich errungen die bei ihrem Entstehen, bei ihrer Geburt noch
ferne lagen. Diese Mittelgesellschaft, die gleich den ersten Norman¬
nen im Land der Angelsachsen durch Muth, Thätigkeit und eine
neue Civilisation immer mehr Raum gewinnt, und gleich jenen, die
mit dem einen Fuße nach der Normandie und mit dem anderen be¬
reits in Britanien wurzelten, mit dem einen Fuß in dem Bürger-
und mit dem andern im Adelöstande stehen, diese immer wachsende
und sich mehrende Masse muß ihrer Schwerkraft zufolge allmählig
diesen durchbrechen und jenen nach sich ziehen: mit einem Worte,
dieser Mittelstand wird damit enden, Gleichmäßigkeit der Gesetze
für alle zu erringen.

Aber der Staat widersetzt sich dieser Nivellirung? Er sucht
die scharfe Trennung der Stände zu unterhalten? Warum ertheilte
er sonst alljährlich so viel neue Avisbriefe? Und sind es nicht eben
jene Individuen, die durch Talent, Fleiß und Reichthum sich zu
einer bedeutenden gesellschaftlichen Stellung emporgeschwungen, die
man durch Ertheilung des Adelödiploms von ihrem Zusammen¬
hange mit der Burgeoisie los zu lösen sucht? Liegt hier nicht die
Absicht am Tage, den Bürgerstand zu schwächen und lieber hundert


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[0494] her schämt, daß also bei der legislativen wie bei der erecutorischen Gewalt das Bewußtsein einer nothwendigen Reform sich vordrängt. Dieses Bewußtsein, das sich jedoch zu keinem entscheidenden schö¬ pferischen Schritte entschließen kann, sucht sich mit kleiner Schei¬ demünze zu behelfen, mit zahllosen kleinen Concessionen und Aus- nahmöregeln. Aber die kleine Münze ist allmählig zu einem an¬ sehnlichen Kapital angelaufen, die Ausnahmsmaßregeln sind zu ei¬ nem halblogischen Zwischensystem zusammengewachsen, die Con¬ cessionen haben ein buntes Zwischenreich aufgeschwemmt, in wel¬ chem es von innern Widersprüchen und heterogenen Elementen wimmelt, das aber nichts desto weniger eine gewisse äußere Zu- sammcnhangbarkeit hat. So locker dieser Boden ist, so' hat sich doch eine mosaikartige Bevölkerung darauf angebaut, von der jedes Stück für sich einer andern Gattung angehört und seinen eigenen Gesetzen von Existenz und Nichteristenz folgt, die aber insgesammt das Kennzeichen verbindet, daß sie sich durch Talent, Fleiß und Reichthum allmählig diesen Boden erobert, allmählig Zugeständ¬ nisse sich errungen die bei ihrem Entstehen, bei ihrer Geburt noch ferne lagen. Diese Mittelgesellschaft, die gleich den ersten Norman¬ nen im Land der Angelsachsen durch Muth, Thätigkeit und eine neue Civilisation immer mehr Raum gewinnt, und gleich jenen, die mit dem einen Fuße nach der Normandie und mit dem anderen be¬ reits in Britanien wurzelten, mit dem einen Fuß in dem Bürger- und mit dem andern im Adelöstande stehen, diese immer wachsende und sich mehrende Masse muß ihrer Schwerkraft zufolge allmählig diesen durchbrechen und jenen nach sich ziehen: mit einem Worte, dieser Mittelstand wird damit enden, Gleichmäßigkeit der Gesetze für alle zu erringen. Aber der Staat widersetzt sich dieser Nivellirung? Er sucht die scharfe Trennung der Stände zu unterhalten? Warum ertheilte er sonst alljährlich so viel neue Avisbriefe? Und sind es nicht eben jene Individuen, die durch Talent, Fleiß und Reichthum sich zu einer bedeutenden gesellschaftlichen Stellung emporgeschwungen, die man durch Ertheilung des Adelödiploms von ihrem Zusammen¬ hange mit der Burgeoisie los zu lösen sucht? Liegt hier nicht die Absicht am Tage, den Bürgerstand zu schwächen und lieber hundert

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/494>, abgerufen am 03.09.2024.