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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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willkührlich erinnerte ich mich an den Urahn des Waldes im Ju-
stinus-Kcrnerschen Mährchen, an den uralten, tiefpoetischen Greis.
Sie erzählte mir von Schiller und wie er ihr die ersten Scenen
aus Don Carlos und Wallenstein vorgelesen, und mit welchem
Feuer er den Dialog zwischen Mar und Thecla vorgetragen. Klingt
das nicht wie ein Mährchen? Mir war es wie ein Traum. Selbst
Manches worüber ich bei Anderen hätte lächeln müssen, kam mir
bei dieser Ahnfrau deutscher Poesie rührend und ehrfurchtgebietend
vor. Wenn sie z. B. sagte, sie glaube die "Erlinde" des jungen
Wolfgang Goethe, des Enkels, werde- eine neue Bewegung in der
deutschen Literatur hervorbringen. Nun, bis heute ist von dieser
Bewegung noch nichts zu spüren. Oder wenn ich ihr erzählte, wie
Schiller selbst in den nicht deutschen Ländern Oesterreichs in jedem
Hause zu finden sei und sie sich darüber freute, als wäre von einem
jungen Dichter die Rede, der auf dem Wege ist, beim Publicum
sein Glück zu machen. Beweist das aber nicht, daß sie noch mit
ganzer Seele in jenen längst entschwundenen, uns nun romantischen
Zeiten lebt, da sie sich des flüchtigen Dichters der Räuber so schon
angenommen? und daß Schiller in ihrer Erinnerung noch immer
als wilder, rothlockigcr Jüngling lebt? Mit inniger Rührung
und mit einer so tiefen Verbeugung, wie ich sie vor keinem Könige
der Welt machen würde, ging ich von ihr, und eben so gerührt
denke ich noch heute an sie, die lebende Mahnung an eine große
Zeit. Aber keine Weichheit! darum schnell zu einem Gegensatze
hinübergesprungen!

Denken Sie sich vor Allem eine Schnupftabaksdose, dazu eine
breite vierschrötige Gestalt mit entsprechendem Gesichte, große Rüh¬
rigkeit in allen Gliedern, ungeheure Massen kvllossalcr Weiblichkeit,
undt die berühmte Charlotte Birch-Pfeiffer ist fertig. Im Hüte! de
Baviere zu Leipzig sah ich sie zum ersten Male. Das kam so. Ich
stand hinter einer Säule, und konnte nur einen kleinen Theil des
weiten Speisesaales überblicken. Mit einem Male höre ich ein ge¬
waltiges Lachen, Disputiren, Witzemachcn, kurz einen grandiosen
Lärm von einem der Tische her. Ich ging um die Säule, der Lärm
war Charlotte Birch-Pfeiffer. Erst einige Tage später lernte ich
sie am Tische eines berühmten Leipziger Schriftstellers näher kennen.
Aber es war immer dieselbe komische Alte. Ich will damit nicht
sagen, daß Charlotte Birch-Pfeiffer alt sei -- Gott bewahre, ich


willkührlich erinnerte ich mich an den Urahn des Waldes im Ju-
stinus-Kcrnerschen Mährchen, an den uralten, tiefpoetischen Greis.
Sie erzählte mir von Schiller und wie er ihr die ersten Scenen
aus Don Carlos und Wallenstein vorgelesen, und mit welchem
Feuer er den Dialog zwischen Mar und Thecla vorgetragen. Klingt
das nicht wie ein Mährchen? Mir war es wie ein Traum. Selbst
Manches worüber ich bei Anderen hätte lächeln müssen, kam mir
bei dieser Ahnfrau deutscher Poesie rührend und ehrfurchtgebietend
vor. Wenn sie z. B. sagte, sie glaube die „Erlinde" des jungen
Wolfgang Goethe, des Enkels, werde- eine neue Bewegung in der
deutschen Literatur hervorbringen. Nun, bis heute ist von dieser
Bewegung noch nichts zu spüren. Oder wenn ich ihr erzählte, wie
Schiller selbst in den nicht deutschen Ländern Oesterreichs in jedem
Hause zu finden sei und sie sich darüber freute, als wäre von einem
jungen Dichter die Rede, der auf dem Wege ist, beim Publicum
sein Glück zu machen. Beweist das aber nicht, daß sie noch mit
ganzer Seele in jenen längst entschwundenen, uns nun romantischen
Zeiten lebt, da sie sich des flüchtigen Dichters der Räuber so schon
angenommen? und daß Schiller in ihrer Erinnerung noch immer
als wilder, rothlockigcr Jüngling lebt? Mit inniger Rührung
und mit einer so tiefen Verbeugung, wie ich sie vor keinem Könige
der Welt machen würde, ging ich von ihr, und eben so gerührt
denke ich noch heute an sie, die lebende Mahnung an eine große
Zeit. Aber keine Weichheit! darum schnell zu einem Gegensatze
hinübergesprungen!

Denken Sie sich vor Allem eine Schnupftabaksdose, dazu eine
breite vierschrötige Gestalt mit entsprechendem Gesichte, große Rüh¬
rigkeit in allen Gliedern, ungeheure Massen kvllossalcr Weiblichkeit,
undt die berühmte Charlotte Birch-Pfeiffer ist fertig. Im Hüte! de
Baviere zu Leipzig sah ich sie zum ersten Male. Das kam so. Ich
stand hinter einer Säule, und konnte nur einen kleinen Theil des
weiten Speisesaales überblicken. Mit einem Male höre ich ein ge¬
waltiges Lachen, Disputiren, Witzemachcn, kurz einen grandiosen
Lärm von einem der Tische her. Ich ging um die Säule, der Lärm
war Charlotte Birch-Pfeiffer. Erst einige Tage später lernte ich
sie am Tische eines berühmten Leipziger Schriftstellers näher kennen.
Aber es war immer dieselbe komische Alte. Ich will damit nicht
sagen, daß Charlotte Birch-Pfeiffer alt sei — Gott bewahre, ich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/453>, abgerufen am 09.11.2024.