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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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hört. Trotzdem ist unsere Bühne in Verfall, und vielleicht nur, weil
der vielfache Gebrauch der stärksten Mittel eine Erschlaffung im Pub-
licum und andererseits Verbrauch der Mittel selbst erzeugt. Es
ist leicht einzusehen, daß bei den gehäuften Reizmitteln, indem oft
in einer Woche drei große Opern aufgeführt und eine neue einstudirt,
indem bald diese bald jene Sommität herzugerusen wurde, der Ge¬
schmack sich von dem Vergnügen an der Kunst auf die Lust am
Neuen und Außerordentlichen hinwendet, und daß auf der andern
Seite, bei der Mangelhaftigkeit der vorhandenen Kräfte, sich diese
Kräfte selbst überspannen und unbrauchbar werden mußten. Ein
Beispiel hiezu bietet unsere erste Sängerin. Als junges Mädchen
beginnend, bat sie die ganze Stufenfolge aller Rollen vom Gärtner¬
mädchen in Figaro's Hochzeit bis zur Alice und Valentine durchge¬
macht und beiläufig-6V Rollen einstudirt; dabei sich stets die Gunst
des Publicums zu erhalten gewußt. Kein Wunder, daß die neue
Direction diese Mine auszubeuten suchte: die gefeierte Sängerin
mußte häufig dreimal die Woche in drei verschiedenen größeren Par-
thien auftreten und dazwischen wohl noch zur Aushülfe eine kleinere
Rolle übernehmen. Die Folgen solcher unverhältnißmäßigen Anstreng¬
ung ließen nicht lange auf sich warten. Am Ende des vergangenen
Winters stellte sich ein hartnäckiges Halsübel ein, welches die Sänge¬
irin an jedem Auftreten hinderte und den gänzlichen Verlust ihrer
Stimme befürchten ließ. So rächte sich die übertriebene Gewinn¬
sucht der Theateruntcrnehmer. Aber eine traurige Zeit stand dem
Opfer dieser Uebertreibung bevor. Außer der beständigen Furcht, ihre
Stimme und damit das einzige Mittel ihrer Existenz und der ihrer zahl¬
reichen von ihr unterstützten Familie zu verlieren, hing noch das Ge¬
wicht eines nur auf ihre längere Entfernung von der Bühne gegrün¬
deten, von Uebelwollenden mit Eiser verbreiteten, ihre Moralität ankla¬
genden Gerüchtes schwer über ihr. Die Frankfurter sind ein Kauf¬
mannsvolk; wer ihnen zu verdienen giebt, den erheben, den achten
sie, mag es um seine Sittlichkeit auch notorisch am schlimmsten be¬
stellt sein; der Reiche, der Millionär darf sich Alles erlauben und
man wird sich durch seinen Umgang geehrt fühlen. Wagt es aber
Jemand, der nur an inneren Schätzen reich ist, von der geraden Bahn
abzuweichen, so macht das Gefühl der beleidigen Moralität sich Raum,
und wehe dem Unglücklichen, der sich vergessen in schwacher Stunde!
Wären die Gerüchte, die über unsere Primadonna im Umlauf wa¬
ren, wirklich gegründet gewesen, sie hätte es nicht wagen dürfen, je
mehr die Bühne zu betreten; womit man sie in anonymen Briefen
bedrohte, nämlich ausgezischt, ja thätlich mißhandelt zu werden. Ob¬
gleich aber in dem vorliegenden Falle die Wahrheit sich wirklich Bahn
brach und nur erklärte Feinde auf der Behauptung der verbreiteten
Lügen bestanden, die Angst, die Gemüthsaufregung, in der sich die


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hört. Trotzdem ist unsere Bühne in Verfall, und vielleicht nur, weil
der vielfache Gebrauch der stärksten Mittel eine Erschlaffung im Pub-
licum und andererseits Verbrauch der Mittel selbst erzeugt. Es
ist leicht einzusehen, daß bei den gehäuften Reizmitteln, indem oft
in einer Woche drei große Opern aufgeführt und eine neue einstudirt,
indem bald diese bald jene Sommität herzugerusen wurde, der Ge¬
schmack sich von dem Vergnügen an der Kunst auf die Lust am
Neuen und Außerordentlichen hinwendet, und daß auf der andern
Seite, bei der Mangelhaftigkeit der vorhandenen Kräfte, sich diese
Kräfte selbst überspannen und unbrauchbar werden mußten. Ein
Beispiel hiezu bietet unsere erste Sängerin. Als junges Mädchen
beginnend, bat sie die ganze Stufenfolge aller Rollen vom Gärtner¬
mädchen in Figaro's Hochzeit bis zur Alice und Valentine durchge¬
macht und beiläufig-6V Rollen einstudirt; dabei sich stets die Gunst
des Publicums zu erhalten gewußt. Kein Wunder, daß die neue
Direction diese Mine auszubeuten suchte: die gefeierte Sängerin
mußte häufig dreimal die Woche in drei verschiedenen größeren Par-
thien auftreten und dazwischen wohl noch zur Aushülfe eine kleinere
Rolle übernehmen. Die Folgen solcher unverhältnißmäßigen Anstreng¬
ung ließen nicht lange auf sich warten. Am Ende des vergangenen
Winters stellte sich ein hartnäckiges Halsübel ein, welches die Sänge¬
irin an jedem Auftreten hinderte und den gänzlichen Verlust ihrer
Stimme befürchten ließ. So rächte sich die übertriebene Gewinn¬
sucht der Theateruntcrnehmer. Aber eine traurige Zeit stand dem
Opfer dieser Uebertreibung bevor. Außer der beständigen Furcht, ihre
Stimme und damit das einzige Mittel ihrer Existenz und der ihrer zahl¬
reichen von ihr unterstützten Familie zu verlieren, hing noch das Ge¬
wicht eines nur auf ihre längere Entfernung von der Bühne gegrün¬
deten, von Uebelwollenden mit Eiser verbreiteten, ihre Moralität ankla¬
genden Gerüchtes schwer über ihr. Die Frankfurter sind ein Kauf¬
mannsvolk; wer ihnen zu verdienen giebt, den erheben, den achten
sie, mag es um seine Sittlichkeit auch notorisch am schlimmsten be¬
stellt sein; der Reiche, der Millionär darf sich Alles erlauben und
man wird sich durch seinen Umgang geehrt fühlen. Wagt es aber
Jemand, der nur an inneren Schätzen reich ist, von der geraden Bahn
abzuweichen, so macht das Gefühl der beleidigen Moralität sich Raum,
und wehe dem Unglücklichen, der sich vergessen in schwacher Stunde!
Wären die Gerüchte, die über unsere Primadonna im Umlauf wa¬
ren, wirklich gegründet gewesen, sie hätte es nicht wagen dürfen, je
mehr die Bühne zu betreten; womit man sie in anonymen Briefen
bedrohte, nämlich ausgezischt, ja thätlich mißhandelt zu werden. Ob¬
gleich aber in dem vorliegenden Falle die Wahrheit sich wirklich Bahn
brach und nur erklärte Feinde auf der Behauptung der verbreiteten
Lügen bestanden, die Angst, die Gemüthsaufregung, in der sich die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/427>, abgerufen am 23.12.2024.