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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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vermuthlich nicht anders sein kann. Etwa hundert Kadetten und
Studenten stürmen den Palast Constantins, der zitternd und zähn-
klappcnd von seinen Kammerdienern durch einen unterirdischen
Gang sich fortschleppen und retten läßt. Die Studenten haben es
aber nicht blos mit diesem Tyrannen zu thun, sondern mit Rußland
überhaupt; sie rennen durch die Straßen von Warschau und rufen
zu den Waffen. Das Volk jagt die Russen fort, und die Aufrüh¬
rer übergeben nun den einflußreichsten Männern die Leitung der
von ihnen in Gang gesetzten Rebellion.

Czartoryski, der Anfangs in dem ganzen Vorgange nur eine ju¬
gendliche Aufwallung sah, hoffte noch auf eine friedliche Ausglei¬
chung. Er begab sich den folgenden Tag zum Großfürsten Kon¬
stantin und bat ihn, wieder in die Stadt zu kommen; auf die Wei¬
gerung Constantins, erließ er einen Aufruf an die Bewohner War¬
schau's, worin diese aufgefordert wurden, zu ihren friedlichen Be¬
schäftigungen zurückzukehren. Diese Proklamation, die man ihm oft
zum Vorwurf machte, war nicht blos von ihm, sondern auch von
Patrioten wie Fürst Radziwill, General Pan, Kochanowski und
dem ehrwürdigen Niemcewicz unterzeichnet Diese Männer, welche
später sämmtlich geächtet wurden, ließen sich von den Vorspiegelun¬
gen des Nussenfreundcs Lubecki einlullen und träumten lange von
einem Vertrage mit Nikolaj.

Leider hatte auch der zum Dictator ernannte Chlopicki, denselben
Gedanken. Chlopicki, denseineUngnade unter Constantin sehr populär
gemacht hatte, und der das ganze Vertrauen des Landes besaß, ließ zwei
kostbareMonate verstreichen in nutzlosen Verhandlungen, dieCzartoryski,
als Minister des Auswärtigen, leiten mußte; und statt das ganze waf¬
fenfähige Volk aufzubieten, wurde vielmehr die nationale Kriegs¬
lust beschwichtigt und ein vortheilhafter Friede in Aussicht gestellt.
Weiter wollte Nußland Nichts. Dem Czaren schien die Gelegen-
legenheit willkommen, als Besieger eines rebellischen Volkes auf¬
zutreten, um dann desto schonungsloser richten und Polen ganz
zertreten zu können. Rußland ahnte vielleicht nicht, daß es seinen
Sieg über die Rebellen so theuer erkaufen, und dem polnischen He¬
roismus gegenüber, seiner Waffengewalt so arge Blößen in den
Augen Europas geben würde. Es war noch berauscht von
den Erfolgen seines letzten Feldzuges von 1829, aber es vergaß,


vermuthlich nicht anders sein kann. Etwa hundert Kadetten und
Studenten stürmen den Palast Constantins, der zitternd und zähn-
klappcnd von seinen Kammerdienern durch einen unterirdischen
Gang sich fortschleppen und retten läßt. Die Studenten haben es
aber nicht blos mit diesem Tyrannen zu thun, sondern mit Rußland
überhaupt; sie rennen durch die Straßen von Warschau und rufen
zu den Waffen. Das Volk jagt die Russen fort, und die Aufrüh¬
rer übergeben nun den einflußreichsten Männern die Leitung der
von ihnen in Gang gesetzten Rebellion.

Czartoryski, der Anfangs in dem ganzen Vorgange nur eine ju¬
gendliche Aufwallung sah, hoffte noch auf eine friedliche Ausglei¬
chung. Er begab sich den folgenden Tag zum Großfürsten Kon¬
stantin und bat ihn, wieder in die Stadt zu kommen; auf die Wei¬
gerung Constantins, erließ er einen Aufruf an die Bewohner War¬
schau's, worin diese aufgefordert wurden, zu ihren friedlichen Be¬
schäftigungen zurückzukehren. Diese Proklamation, die man ihm oft
zum Vorwurf machte, war nicht blos von ihm, sondern auch von
Patrioten wie Fürst Radziwill, General Pan, Kochanowski und
dem ehrwürdigen Niemcewicz unterzeichnet Diese Männer, welche
später sämmtlich geächtet wurden, ließen sich von den Vorspiegelun¬
gen des Nussenfreundcs Lubecki einlullen und träumten lange von
einem Vertrage mit Nikolaj.

Leider hatte auch der zum Dictator ernannte Chlopicki, denselben
Gedanken. Chlopicki, denseineUngnade unter Constantin sehr populär
gemacht hatte, und der das ganze Vertrauen des Landes besaß, ließ zwei
kostbareMonate verstreichen in nutzlosen Verhandlungen, dieCzartoryski,
als Minister des Auswärtigen, leiten mußte; und statt das ganze waf¬
fenfähige Volk aufzubieten, wurde vielmehr die nationale Kriegs¬
lust beschwichtigt und ein vortheilhafter Friede in Aussicht gestellt.
Weiter wollte Nußland Nichts. Dem Czaren schien die Gelegen-
legenheit willkommen, als Besieger eines rebellischen Volkes auf¬
zutreten, um dann desto schonungsloser richten und Polen ganz
zertreten zu können. Rußland ahnte vielleicht nicht, daß es seinen
Sieg über die Rebellen so theuer erkaufen, und dem polnischen He¬
roismus gegenüber, seiner Waffengewalt so arge Blößen in den
Augen Europas geben würde. Es war noch berauscht von
den Erfolgen seines letzten Feldzuges von 1829, aber es vergaß,


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[0357] vermuthlich nicht anders sein kann. Etwa hundert Kadetten und Studenten stürmen den Palast Constantins, der zitternd und zähn- klappcnd von seinen Kammerdienern durch einen unterirdischen Gang sich fortschleppen und retten läßt. Die Studenten haben es aber nicht blos mit diesem Tyrannen zu thun, sondern mit Rußland überhaupt; sie rennen durch die Straßen von Warschau und rufen zu den Waffen. Das Volk jagt die Russen fort, und die Aufrüh¬ rer übergeben nun den einflußreichsten Männern die Leitung der von ihnen in Gang gesetzten Rebellion. Czartoryski, der Anfangs in dem ganzen Vorgange nur eine ju¬ gendliche Aufwallung sah, hoffte noch auf eine friedliche Ausglei¬ chung. Er begab sich den folgenden Tag zum Großfürsten Kon¬ stantin und bat ihn, wieder in die Stadt zu kommen; auf die Wei¬ gerung Constantins, erließ er einen Aufruf an die Bewohner War¬ schau's, worin diese aufgefordert wurden, zu ihren friedlichen Be¬ schäftigungen zurückzukehren. Diese Proklamation, die man ihm oft zum Vorwurf machte, war nicht blos von ihm, sondern auch von Patrioten wie Fürst Radziwill, General Pan, Kochanowski und dem ehrwürdigen Niemcewicz unterzeichnet Diese Männer, welche später sämmtlich geächtet wurden, ließen sich von den Vorspiegelun¬ gen des Nussenfreundcs Lubecki einlullen und träumten lange von einem Vertrage mit Nikolaj. Leider hatte auch der zum Dictator ernannte Chlopicki, denselben Gedanken. Chlopicki, denseineUngnade unter Constantin sehr populär gemacht hatte, und der das ganze Vertrauen des Landes besaß, ließ zwei kostbareMonate verstreichen in nutzlosen Verhandlungen, dieCzartoryski, als Minister des Auswärtigen, leiten mußte; und statt das ganze waf¬ fenfähige Volk aufzubieten, wurde vielmehr die nationale Kriegs¬ lust beschwichtigt und ein vortheilhafter Friede in Aussicht gestellt. Weiter wollte Nußland Nichts. Dem Czaren schien die Gelegen- legenheit willkommen, als Besieger eines rebellischen Volkes auf¬ zutreten, um dann desto schonungsloser richten und Polen ganz zertreten zu können. Rußland ahnte vielleicht nicht, daß es seinen Sieg über die Rebellen so theuer erkaufen, und dem polnischen He¬ roismus gegenüber, seiner Waffengewalt so arge Blößen in den Augen Europas geben würde. Es war noch berauscht von den Erfolgen seines letzten Feldzuges von 1829, aber es vergaß,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/357>, abgerufen am 02.09.2024.