Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.Gin Besuch bei Grillparzer. Von einem Norddeutschen. In meinem vierzehnten Jahre ungefähr sah ich die Ahnfrau Gin Besuch bei Grillparzer. Von einem Norddeutschen. In meinem vierzehnten Jahre ungefähr sah ich die Ahnfrau <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0317" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/182127"/> </div> <div n="1"> <head> Gin Besuch bei Grillparzer.<lb/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/><note type="byline"> Von einem Norddeutschen.</note><milestone rendition="#hr" unit="section"/></head><lb/> <p xml:id="ID_714" next="#ID_715"> In meinem vierzehnten Jahre ungefähr sah ich die Ahnfrau<lb/> von Grillparzer zum ersten Male, und zwar auf der kleinen Bühne<lb/> meiner Heimath, einer kleinen Provinzialstadt Norddeutschlands.<lb/> Die Ahnfrau sprach ihre wenigen Worte sehr geisterhaft und hohl,<lb/> als kämen sie aus einer unterirdischen Theaterschule; Bertha flötete<lb/> wie eine sterbende Nachtigall und Jaromir brüllte wie ein senti¬<lb/> mentaler Tiger. Mir war, als öffneten sich alle Gräber, als wür¬<lb/> den alle Schrecken dieser und jener Welt losgelassen und als be¬<lb/> gönne das jüngste Gericht. Alles Applaudiren und Beifall rufen<lb/> des Publicums, wie wohl es an meine geschreckten Sinne wie<lb/> der Posaunenruf des letzten Tages schlug, war mir zu wenig, denn<lb/> das Stück gefiel mir außerordentlich. Ich hatte während der Auf¬<lb/> führung so aufmerksam zugehorcht, daß ich ganze Tyraden aus¬<lb/> wendig wußte und mir sie beim Nachhausegehen mit wilden Gesten<lb/> recitirte. Als ich an unsere Hausthüre pochte und meine Schwe¬<lb/> ster von innen fragte, wer draußen sei, antwortete ich mit wilder<lb/> Stimme: Ich bin der Räuber Jaromir! Aber Jahre vergingen, und<lb/> der Eindruck, den die „Ahnfrau" auf mein sehr jugendliches Herz<lb/> gemacht, wurde immer mehr und mehr verwischt, und als ich das¬<lb/> selbe Trauerspiel nach ungefähr acht Jahren zum zweiten Male,<lb/> und zwar besser dargestellt als einst, wiedersah, war ich um eine<lb/> Illusion ärmer, und ich mußte mir sagen, daß das Stück, das mich<lb/> in früher Jugend entzückt, einen nichts weniger als reinen ästheti¬<lb/> schen Eindruck hervorbringe, daß es zwar von einem ausgezeichne¬<lb/> ten Dichtertalente Zeugniß gebe/ aber bizarr sei und geschmacklos.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0317]
Gin Besuch bei Grillparzer.
Von einem Norddeutschen.
In meinem vierzehnten Jahre ungefähr sah ich die Ahnfrau
von Grillparzer zum ersten Male, und zwar auf der kleinen Bühne
meiner Heimath, einer kleinen Provinzialstadt Norddeutschlands.
Die Ahnfrau sprach ihre wenigen Worte sehr geisterhaft und hohl,
als kämen sie aus einer unterirdischen Theaterschule; Bertha flötete
wie eine sterbende Nachtigall und Jaromir brüllte wie ein senti¬
mentaler Tiger. Mir war, als öffneten sich alle Gräber, als wür¬
den alle Schrecken dieser und jener Welt losgelassen und als be¬
gönne das jüngste Gericht. Alles Applaudiren und Beifall rufen
des Publicums, wie wohl es an meine geschreckten Sinne wie
der Posaunenruf des letzten Tages schlug, war mir zu wenig, denn
das Stück gefiel mir außerordentlich. Ich hatte während der Auf¬
führung so aufmerksam zugehorcht, daß ich ganze Tyraden aus¬
wendig wußte und mir sie beim Nachhausegehen mit wilden Gesten
recitirte. Als ich an unsere Hausthüre pochte und meine Schwe¬
ster von innen fragte, wer draußen sei, antwortete ich mit wilder
Stimme: Ich bin der Räuber Jaromir! Aber Jahre vergingen, und
der Eindruck, den die „Ahnfrau" auf mein sehr jugendliches Herz
gemacht, wurde immer mehr und mehr verwischt, und als ich das¬
selbe Trauerspiel nach ungefähr acht Jahren zum zweiten Male,
und zwar besser dargestellt als einst, wiedersah, war ich um eine
Illusion ärmer, und ich mußte mir sagen, daß das Stück, das mich
in früher Jugend entzückt, einen nichts weniger als reinen ästheti¬
schen Eindruck hervorbringe, daß es zwar von einem ausgezeichne¬
ten Dichtertalente Zeugniß gebe/ aber bizarr sei und geschmacklos.
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