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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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dessen Blitze man sieht, dessen Donner man aber nicht vernimmt.
Und dennoch geht aus Cuvier's Briefwechsel hervor, daß der junge
Naturforscher für die Natur der Menschen und den Wandel mensch¬
licher Dinge eben so wohl einen Blick hatte, wie für die ewigen
Geheimnisse und die ziemlich ruhigern Entwicklungen der Thier -
und Pflanzenwelt. Sein Blick war nicht verdüstert von der Ge-
spensterseherei seiner aristokratischen Umgebung, und nicht geblendet
von den Idealen der Apostel des ewigen Friedens oder den Mai¬
feuern der jakobinischen Weltbefreier. Im Genuß des Meeres und
einer angenehmen Muße, gab er sich ganz der unmittelbaren Na¬
turbetrachtung hin. Er hatte nur wenig Bücher und mußte daher
meist mit eigenen Augen forschen; dadurch erlangte er eine Origi¬
nalität und Schärfe, die kein Lehrer geben kann. Er sammelte Jn-
'Seelen und Vogel, Seethiere und Pflanzen, untersuchte, anatomirte
und firirte seine Wahrnehmungen auf der Stelle durch meisterhafte
Zeichnungen und Beschreibungen. In seiner Korrespondenz, die er
mit den deutschen Jugendfreunden bis 1792 lebhaft unterhielt, spie¬
len Zoologie und Physik, Botanik und Chemie eine gleich große
Rolle, und in jeder Kleinigkeit verräth sich schon der philosophische
Forscher, das auf allgemeine und umfassende Resultate lossteuernde,
Analyse und Synthese vereinigende Genie. Dieser Briefwechsel
verstummte allmälig, als das Getöse der Revolution in immer wei¬
tern Kreisen ganz Europa durchdrang und die deutschen Jugend¬
freunde Cuviers es vielleicht bedenklich fanden, in das revolutio¬
näre Frankreich hinein zu correepondiren.

Im Jahre 1794 kam Tessier, ein Mitglied der Akademie der
Wissenschaften, nach Caen, um ein Asyl gegen den Terrorismus
zu suchen, der auch die Harmlosesten bedrohte, und machte Cuvier's
Bekanntschaft. Man sagt, er habe den jungen Naturforscher in
einem volksthümlichen Verein kennen gelernt, der sich in dem Flecken
Valmont, bei Schloß Fiquainville, mit ursprünglich demagogischen
Tendenzen, gebildet hatte. Solche kleine Jacobinerclubs bedeckten
damals ganz Frankreich. Aber Cuvier hatte sich bald einen sol¬
chen Einfluß in diesem Club erworben, daß es ihm gelang, densel¬
ben allmälig in eine friedliche landwirtschaftliche Gesellschaft zu
verwandeln, deren Präsident, Secretär und Hauptredner er in
Einer Person war.


dessen Blitze man sieht, dessen Donner man aber nicht vernimmt.
Und dennoch geht aus Cuvier's Briefwechsel hervor, daß der junge
Naturforscher für die Natur der Menschen und den Wandel mensch¬
licher Dinge eben so wohl einen Blick hatte, wie für die ewigen
Geheimnisse und die ziemlich ruhigern Entwicklungen der Thier -
und Pflanzenwelt. Sein Blick war nicht verdüstert von der Ge-
spensterseherei seiner aristokratischen Umgebung, und nicht geblendet
von den Idealen der Apostel des ewigen Friedens oder den Mai¬
feuern der jakobinischen Weltbefreier. Im Genuß des Meeres und
einer angenehmen Muße, gab er sich ganz der unmittelbaren Na¬
turbetrachtung hin. Er hatte nur wenig Bücher und mußte daher
meist mit eigenen Augen forschen; dadurch erlangte er eine Origi¬
nalität und Schärfe, die kein Lehrer geben kann. Er sammelte Jn-
'Seelen und Vogel, Seethiere und Pflanzen, untersuchte, anatomirte
und firirte seine Wahrnehmungen auf der Stelle durch meisterhafte
Zeichnungen und Beschreibungen. In seiner Korrespondenz, die er
mit den deutschen Jugendfreunden bis 1792 lebhaft unterhielt, spie¬
len Zoologie und Physik, Botanik und Chemie eine gleich große
Rolle, und in jeder Kleinigkeit verräth sich schon der philosophische
Forscher, das auf allgemeine und umfassende Resultate lossteuernde,
Analyse und Synthese vereinigende Genie. Dieser Briefwechsel
verstummte allmälig, als das Getöse der Revolution in immer wei¬
tern Kreisen ganz Europa durchdrang und die deutschen Jugend¬
freunde Cuviers es vielleicht bedenklich fanden, in das revolutio¬
näre Frankreich hinein zu correepondiren.

Im Jahre 1794 kam Tessier, ein Mitglied der Akademie der
Wissenschaften, nach Caen, um ein Asyl gegen den Terrorismus
zu suchen, der auch die Harmlosesten bedrohte, und machte Cuvier's
Bekanntschaft. Man sagt, er habe den jungen Naturforscher in
einem volksthümlichen Verein kennen gelernt, der sich in dem Flecken
Valmont, bei Schloß Fiquainville, mit ursprünglich demagogischen
Tendenzen, gebildet hatte. Solche kleine Jacobinerclubs bedeckten
damals ganz Frankreich. Aber Cuvier hatte sich bald einen sol¬
chen Einfluß in diesem Club erworben, daß es ihm gelang, densel¬
ben allmälig in eine friedliche landwirtschaftliche Gesellschaft zu
verwandeln, deren Präsident, Secretär und Hauptredner er in
Einer Person war.


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[0301] dessen Blitze man sieht, dessen Donner man aber nicht vernimmt. Und dennoch geht aus Cuvier's Briefwechsel hervor, daß der junge Naturforscher für die Natur der Menschen und den Wandel mensch¬ licher Dinge eben so wohl einen Blick hatte, wie für die ewigen Geheimnisse und die ziemlich ruhigern Entwicklungen der Thier - und Pflanzenwelt. Sein Blick war nicht verdüstert von der Ge- spensterseherei seiner aristokratischen Umgebung, und nicht geblendet von den Idealen der Apostel des ewigen Friedens oder den Mai¬ feuern der jakobinischen Weltbefreier. Im Genuß des Meeres und einer angenehmen Muße, gab er sich ganz der unmittelbaren Na¬ turbetrachtung hin. Er hatte nur wenig Bücher und mußte daher meist mit eigenen Augen forschen; dadurch erlangte er eine Origi¬ nalität und Schärfe, die kein Lehrer geben kann. Er sammelte Jn- 'Seelen und Vogel, Seethiere und Pflanzen, untersuchte, anatomirte und firirte seine Wahrnehmungen auf der Stelle durch meisterhafte Zeichnungen und Beschreibungen. In seiner Korrespondenz, die er mit den deutschen Jugendfreunden bis 1792 lebhaft unterhielt, spie¬ len Zoologie und Physik, Botanik und Chemie eine gleich große Rolle, und in jeder Kleinigkeit verräth sich schon der philosophische Forscher, das auf allgemeine und umfassende Resultate lossteuernde, Analyse und Synthese vereinigende Genie. Dieser Briefwechsel verstummte allmälig, als das Getöse der Revolution in immer wei¬ tern Kreisen ganz Europa durchdrang und die deutschen Jugend¬ freunde Cuviers es vielleicht bedenklich fanden, in das revolutio¬ näre Frankreich hinein zu correepondiren. Im Jahre 1794 kam Tessier, ein Mitglied der Akademie der Wissenschaften, nach Caen, um ein Asyl gegen den Terrorismus zu suchen, der auch die Harmlosesten bedrohte, und machte Cuvier's Bekanntschaft. Man sagt, er habe den jungen Naturforscher in einem volksthümlichen Verein kennen gelernt, der sich in dem Flecken Valmont, bei Schloß Fiquainville, mit ursprünglich demagogischen Tendenzen, gebildet hatte. Solche kleine Jacobinerclubs bedeckten damals ganz Frankreich. Aber Cuvier hatte sich bald einen sol¬ chen Einfluß in diesem Club erworben, daß es ihm gelang, densel¬ ben allmälig in eine friedliche landwirtschaftliche Gesellschaft zu verwandeln, deren Präsident, Secretär und Hauptredner er in Einer Person war.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/301>, abgerufen am 01.09.2024.