Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

dauert hat, lassen sich ihm nur desto längere und unsäglichere Lei¬
den voraussagen.

Wo ist nun der Zusammenhang zwischen Nicolaus edler Per¬
sönlichkeit und den dunklen Wegen dieser Politik, die nicht etwa
aus Ohnmacht oder Furcht an der Barbarei der Väter festhält,
sondern in ihren Neuerungen das barbarische Herkommen überbietet?
Man kann sich die finstern Herrschergestalten der Vorzeit, die
Attilas und die Iwans, voll persönlicher Größe denken, trotz des
Lichtes, in welchem uns ihre Thaten erscheinen: sie waren groß im
Sinn ihrer Zeit. Aber Nußland ist weder durch Raum noch Zeit
vom Europa des 19. Jahrhunderts geschieden, seine Dynastie ist
von deutscher Bildung, wie sie von deutschem Geblüte ist; seine
Diplomatie und seine höhere Verwaltung recrutirt ihre Kräfte bei
uns, und moderne Intelligenz steht nur zu fleißig zu seinen Be¬
fehlen. Als neulich das Journal des DebatS den abenteuerli¬
chen Einfall hatte, den Czaren zu einer öffentlichen Erklärung,
wegen des vielbesprochenen Martyrthums der Basilianerinnen,
aufzufordern, sagte ein officiöses preußisches Blatt: es sei ab¬
surd, den Kaiser Nicolaus betheiligt zu glauben, wenn ein bru¬
taler Bischof einer Nonne zwei Zähne ausschlage. Das ist
richtig. So kindisch ist auch Niemand, um zu denken, daß der Au¬
tokrat die Ausführung seines Willens so accurat und detaillirt
vorschreibe. Aber der Herr kennt doch seine Diener, und er weiß,
welche Wirkungen sein Wink, sein Wunsch, oder sein lauter Befehl
zu haben pflegt; er weiß, daß die warmen Gnadenstrahlen, die er
aus seiner Gletscherhöhe ans das Volk niedersendet, unten ziemlich
kühl und kraftlos anlangen, während die kleinste Flocke seines Zorns
als Lawine in die Tiefen rollt; und man sollte glauben, daß ein
Herrscher von so ungewöhnlichem Geist allmälig die relative Wucht
und Kraft seines Zepters kennen und die Zauberschlage, die er auf
die kleinen Sterblichen unter sich führt, menschlich und weise be¬
rechnen lernt. Dennoch beschlich uns dabei ein banger Zweifel.
Alle Berechnung wird vielleicht doch zu Schanden an dem Drang
der Umstände, an dem gewaltthätigen Trieb und der trügerischen
Natur des russischen Wesens. Der Herrscher von sechzig Millionen
erschiene dann, grade weil das Schicksal ihn zu großem Wirken berief,
als Opfer einer schrecklichen Mission; wie ein asiatischer Gott, der, auf


dauert hat, lassen sich ihm nur desto längere und unsäglichere Lei¬
den voraussagen.

Wo ist nun der Zusammenhang zwischen Nicolaus edler Per¬
sönlichkeit und den dunklen Wegen dieser Politik, die nicht etwa
aus Ohnmacht oder Furcht an der Barbarei der Väter festhält,
sondern in ihren Neuerungen das barbarische Herkommen überbietet?
Man kann sich die finstern Herrschergestalten der Vorzeit, die
Attilas und die Iwans, voll persönlicher Größe denken, trotz des
Lichtes, in welchem uns ihre Thaten erscheinen: sie waren groß im
Sinn ihrer Zeit. Aber Nußland ist weder durch Raum noch Zeit
vom Europa des 19. Jahrhunderts geschieden, seine Dynastie ist
von deutscher Bildung, wie sie von deutschem Geblüte ist; seine
Diplomatie und seine höhere Verwaltung recrutirt ihre Kräfte bei
uns, und moderne Intelligenz steht nur zu fleißig zu seinen Be¬
fehlen. Als neulich das Journal des DebatS den abenteuerli¬
chen Einfall hatte, den Czaren zu einer öffentlichen Erklärung,
wegen des vielbesprochenen Martyrthums der Basilianerinnen,
aufzufordern, sagte ein officiöses preußisches Blatt: es sei ab¬
surd, den Kaiser Nicolaus betheiligt zu glauben, wenn ein bru¬
taler Bischof einer Nonne zwei Zähne ausschlage. Das ist
richtig. So kindisch ist auch Niemand, um zu denken, daß der Au¬
tokrat die Ausführung seines Willens so accurat und detaillirt
vorschreibe. Aber der Herr kennt doch seine Diener, und er weiß,
welche Wirkungen sein Wink, sein Wunsch, oder sein lauter Befehl
zu haben pflegt; er weiß, daß die warmen Gnadenstrahlen, die er
aus seiner Gletscherhöhe ans das Volk niedersendet, unten ziemlich
kühl und kraftlos anlangen, während die kleinste Flocke seines Zorns
als Lawine in die Tiefen rollt; und man sollte glauben, daß ein
Herrscher von so ungewöhnlichem Geist allmälig die relative Wucht
und Kraft seines Zepters kennen und die Zauberschlage, die er auf
die kleinen Sterblichen unter sich führt, menschlich und weise be¬
rechnen lernt. Dennoch beschlich uns dabei ein banger Zweifel.
Alle Berechnung wird vielleicht doch zu Schanden an dem Drang
der Umstände, an dem gewaltthätigen Trieb und der trügerischen
Natur des russischen Wesens. Der Herrscher von sechzig Millionen
erschiene dann, grade weil das Schicksal ihn zu großem Wirken berief,
als Opfer einer schrecklichen Mission; wie ein asiatischer Gott, der, auf


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0027" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/181837"/>
          <p xml:id="ID_44" prev="#ID_43"> dauert hat, lassen sich ihm nur desto längere und unsäglichere Lei¬<lb/>
den voraussagen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_45" next="#ID_46"> Wo ist nun der Zusammenhang zwischen Nicolaus edler Per¬<lb/>
sönlichkeit und den dunklen Wegen dieser Politik, die nicht etwa<lb/>
aus Ohnmacht oder Furcht an der Barbarei der Väter festhält,<lb/>
sondern in ihren Neuerungen das barbarische Herkommen überbietet?<lb/>
Man kann sich die finstern Herrschergestalten der Vorzeit, die<lb/>
Attilas und die Iwans, voll persönlicher Größe denken, trotz des<lb/>
Lichtes, in welchem uns ihre Thaten erscheinen: sie waren groß im<lb/>
Sinn ihrer Zeit. Aber Nußland ist weder durch Raum noch Zeit<lb/>
vom Europa des 19. Jahrhunderts geschieden, seine Dynastie ist<lb/>
von deutscher Bildung, wie sie von deutschem Geblüte ist; seine<lb/>
Diplomatie und seine höhere Verwaltung recrutirt ihre Kräfte bei<lb/>
uns, und moderne Intelligenz steht nur zu fleißig zu seinen Be¬<lb/>
fehlen. Als neulich das Journal des DebatS den abenteuerli¬<lb/>
chen Einfall hatte, den Czaren zu einer öffentlichen Erklärung,<lb/>
wegen des vielbesprochenen Martyrthums der Basilianerinnen,<lb/>
aufzufordern, sagte ein officiöses preußisches Blatt: es sei ab¬<lb/>
surd, den Kaiser Nicolaus betheiligt zu glauben, wenn ein bru¬<lb/>
taler Bischof einer Nonne zwei Zähne ausschlage.  Das ist<lb/>
richtig. So kindisch ist auch Niemand, um zu denken, daß der Au¬<lb/>
tokrat die Ausführung seines Willens so accurat und detaillirt<lb/>
vorschreibe. Aber der Herr kennt doch seine Diener, und er weiß,<lb/>
welche Wirkungen sein Wink, sein Wunsch, oder sein lauter Befehl<lb/>
zu haben pflegt; er weiß, daß die warmen Gnadenstrahlen, die er<lb/>
aus seiner Gletscherhöhe ans das Volk niedersendet, unten ziemlich<lb/>
kühl und kraftlos anlangen, während die kleinste Flocke seines Zorns<lb/>
als Lawine in die Tiefen rollt; und man sollte glauben, daß ein<lb/>
Herrscher von so ungewöhnlichem Geist allmälig die relative Wucht<lb/>
und Kraft seines Zepters kennen und die Zauberschlage, die er auf<lb/>
die kleinen Sterblichen unter sich führt, menschlich und weise be¬<lb/>
rechnen lernt.  Dennoch beschlich uns dabei ein banger Zweifel.<lb/>
Alle Berechnung wird vielleicht doch zu Schanden an dem Drang<lb/>
der Umstände, an dem gewaltthätigen Trieb und der trügerischen<lb/>
Natur des russischen Wesens. Der Herrscher von sechzig Millionen<lb/>
erschiene dann, grade weil das Schicksal ihn zu großem Wirken berief,<lb/>
als Opfer einer schrecklichen Mission; wie ein asiatischer Gott, der, auf</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0027] dauert hat, lassen sich ihm nur desto längere und unsäglichere Lei¬ den voraussagen. Wo ist nun der Zusammenhang zwischen Nicolaus edler Per¬ sönlichkeit und den dunklen Wegen dieser Politik, die nicht etwa aus Ohnmacht oder Furcht an der Barbarei der Väter festhält, sondern in ihren Neuerungen das barbarische Herkommen überbietet? Man kann sich die finstern Herrschergestalten der Vorzeit, die Attilas und die Iwans, voll persönlicher Größe denken, trotz des Lichtes, in welchem uns ihre Thaten erscheinen: sie waren groß im Sinn ihrer Zeit. Aber Nußland ist weder durch Raum noch Zeit vom Europa des 19. Jahrhunderts geschieden, seine Dynastie ist von deutscher Bildung, wie sie von deutschem Geblüte ist; seine Diplomatie und seine höhere Verwaltung recrutirt ihre Kräfte bei uns, und moderne Intelligenz steht nur zu fleißig zu seinen Be¬ fehlen. Als neulich das Journal des DebatS den abenteuerli¬ chen Einfall hatte, den Czaren zu einer öffentlichen Erklärung, wegen des vielbesprochenen Martyrthums der Basilianerinnen, aufzufordern, sagte ein officiöses preußisches Blatt: es sei ab¬ surd, den Kaiser Nicolaus betheiligt zu glauben, wenn ein bru¬ taler Bischof einer Nonne zwei Zähne ausschlage. Das ist richtig. So kindisch ist auch Niemand, um zu denken, daß der Au¬ tokrat die Ausführung seines Willens so accurat und detaillirt vorschreibe. Aber der Herr kennt doch seine Diener, und er weiß, welche Wirkungen sein Wink, sein Wunsch, oder sein lauter Befehl zu haben pflegt; er weiß, daß die warmen Gnadenstrahlen, die er aus seiner Gletscherhöhe ans das Volk niedersendet, unten ziemlich kühl und kraftlos anlangen, während die kleinste Flocke seines Zorns als Lawine in die Tiefen rollt; und man sollte glauben, daß ein Herrscher von so ungewöhnlichem Geist allmälig die relative Wucht und Kraft seines Zepters kennen und die Zauberschlage, die er auf die kleinen Sterblichen unter sich führt, menschlich und weise be¬ rechnen lernt. Dennoch beschlich uns dabei ein banger Zweifel. Alle Berechnung wird vielleicht doch zu Schanden an dem Drang der Umstände, an dem gewaltthätigen Trieb und der trügerischen Natur des russischen Wesens. Der Herrscher von sechzig Millionen erschiene dann, grade weil das Schicksal ihn zu großem Wirken berief, als Opfer einer schrecklichen Mission; wie ein asiatischer Gott, der, auf

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/27
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/27>, abgerufen am 23.12.2024.