Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
"Keine Schmerzerinnerung entweihe
Diese Freistatt, keine Neue,
Keine Sorge, keiner Thräne Spur;"

und weiter dann:

"Dringet ihr bis in der Schönheit Sphäre,
Und im Staube bleibt die Schwere
Mit dem Stoff, den sie beherrscht, zurück;
Nicht der Masse qualvoll abgerungen,
Schlank und leicht, wie aus dem Nichts gesprungen.
"
Steht das Bild vor dem entzückten Blick.

Wie anders, wenn Beck im kalten Winter in die Vorstadt
hinauspilgert, in das "wilde Viertel," wo die Hütten morsch, wo
frierende barfüßige Kinder verlassen und müßig hocken, wo Einer
der noch einige Lumpen und Socken anhat, als ein Glückskind an¬
gestaunt wird, und findet da

Was täglich und unverdrossen
Nach Kehricht sucht in verpesteten Gossen;
Was wie der Spatz nach Futter schweift,
Was Töpfe flickt und Scheeren schleift,
Was starren Fingers die Wäsche steift;
Was keuchend schiebt des Karrens Wucht,
Beladen mit kaum gereifter Frucht,
Und weinerlich singt: wer kauft, wer kauft?
Was um den Heller im Schmutze rauft;
Was täglich an den Steinen der Ecken
Den Gott besingt, an den es glaubt,
Kaum wagt die Hände hinzustrecken,
Dieweil das Betteln nicht erlaubt;
Was tauben Ohrs in Hungers Nöthen
Die Harfen spielt und bläst die Flöten,
Jahr aus, Jahr ein denselben Chor --
Vor allen Fenstern, an jedem Thor --
Die Kindcrmagd zum Tanze stimmt,
Doch selber nie das Lied vernimmt;
Was Nachts die große Stadt erhellt
Und selbst kein Licht im Hause hat;
Was Lasten trägt, was Holz zerspellt,
Was herrenlos, was herrensatt;
Was beten und kuppeln und stehlen läuft,
Den Rest des Gewissens wüst versauft.

Ärcnzbot-ii, IZi". I. ZZ
„Keine Schmerzerinnerung entweihe
Diese Freistatt, keine Neue,
Keine Sorge, keiner Thräne Spur;"

und weiter dann:

„Dringet ihr bis in der Schönheit Sphäre,
Und im Staube bleibt die Schwere
Mit dem Stoff, den sie beherrscht, zurück;
Nicht der Masse qualvoll abgerungen,
Schlank und leicht, wie aus dem Nichts gesprungen.
"
Steht das Bild vor dem entzückten Blick.

Wie anders, wenn Beck im kalten Winter in die Vorstadt
hinauspilgert, in das „wilde Viertel," wo die Hütten morsch, wo
frierende barfüßige Kinder verlassen und müßig hocken, wo Einer
der noch einige Lumpen und Socken anhat, als ein Glückskind an¬
gestaunt wird, und findet da

Was täglich und unverdrossen
Nach Kehricht sucht in verpesteten Gossen;
Was wie der Spatz nach Futter schweift,
Was Töpfe flickt und Scheeren schleift,
Was starren Fingers die Wäsche steift;
Was keuchend schiebt des Karrens Wucht,
Beladen mit kaum gereifter Frucht,
Und weinerlich singt: wer kauft, wer kauft?
Was um den Heller im Schmutze rauft;
Was täglich an den Steinen der Ecken
Den Gott besingt, an den es glaubt,
Kaum wagt die Hände hinzustrecken,
Dieweil das Betteln nicht erlaubt;
Was tauben Ohrs in Hungers Nöthen
Die Harfen spielt und bläst die Flöten,
Jahr aus, Jahr ein denselben Chor —
Vor allen Fenstern, an jedem Thor —
Die Kindcrmagd zum Tanze stimmt,
Doch selber nie das Lied vernimmt;
Was Nachts die große Stadt erhellt
Und selbst kein Licht im Hause hat;
Was Lasten trägt, was Holz zerspellt,
Was herrenlos, was herrensatt;
Was beten und kuppeln und stehlen läuft,
Den Rest des Gewissens wüst versauft.

Ärcnzbot-ii, IZi«. I. ZZ
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0265" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/182075"/>
          <lg xml:id="POEMID_63" type="poem">
            <l> &#x201E;Keine Schmerzerinnerung entweihe<lb/>
Diese Freistatt, keine Neue,<lb/>
Keine Sorge, keiner Thräne Spur;"<lb/></l>
          </lg><lb/>
          <p xml:id="ID_586" prev="#ID_585"> und weiter dann:</p><lb/>
          <lg xml:id="POEMID_64" type="poem">
            <l> &#x201E;Dringet ihr bis in der Schönheit Sphäre,<lb/>
Und im Staube bleibt die Schwere<lb/>
Mit dem Stoff, den sie beherrscht, zurück;<lb/>
Nicht der Masse qualvoll abgerungen,<lb/>
Schlank und leicht, wie aus dem Nichts gesprungen.<lb/>
"<lb/>
Steht das Bild vor dem entzückten Blick.<lb/></l>
          </lg><lb/>
          <p xml:id="ID_587"> Wie anders, wenn Beck im kalten Winter in die Vorstadt<lb/>
hinauspilgert, in das &#x201E;wilde Viertel," wo die Hütten morsch, wo<lb/>
frierende barfüßige Kinder verlassen und müßig hocken, wo Einer<lb/>
der noch einige Lumpen und Socken anhat, als ein Glückskind an¬<lb/>
gestaunt wird, und findet da</p><lb/>
          <lg xml:id="POEMID_65" type="poem">
            <l> Was täglich und unverdrossen<lb/>
Nach Kehricht sucht in verpesteten Gossen;<lb/>
Was wie der Spatz nach Futter schweift,<lb/>
Was Töpfe flickt und Scheeren schleift,<lb/>
Was starren Fingers die Wäsche steift;<lb/>
Was keuchend schiebt des Karrens Wucht,<lb/>
Beladen mit kaum gereifter Frucht,<lb/>
Und weinerlich singt: wer kauft, wer kauft?<lb/>
Was um den Heller im Schmutze rauft;<lb/>
Was täglich an den Steinen der Ecken<lb/>
Den Gott besingt, an den es glaubt,<lb/>
Kaum wagt die Hände hinzustrecken,<lb/>
Dieweil das Betteln nicht erlaubt;<lb/>
Was tauben Ohrs in Hungers Nöthen<lb/>
Die Harfen spielt und bläst die Flöten,<lb/>
Jahr aus, Jahr ein denselben Chor &#x2014;<lb/>
Vor allen Fenstern, an jedem Thor &#x2014;<lb/>
Die Kindcrmagd zum Tanze stimmt,<lb/>
Doch selber nie das Lied vernimmt;<lb/>
Was Nachts die große Stadt erhellt<lb/>
Und selbst kein Licht im Hause hat;<lb/>
Was Lasten trägt, was Holz zerspellt,<lb/>
Was herrenlos, was herrensatt;<lb/>
Was beten und kuppeln und stehlen läuft,<lb/>
Den Rest des Gewissens wüst versauft.</l>
          </lg><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Ärcnzbot-ii, IZi«. I. ZZ</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0265] „Keine Schmerzerinnerung entweihe Diese Freistatt, keine Neue, Keine Sorge, keiner Thräne Spur;" und weiter dann: „Dringet ihr bis in der Schönheit Sphäre, Und im Staube bleibt die Schwere Mit dem Stoff, den sie beherrscht, zurück; Nicht der Masse qualvoll abgerungen, Schlank und leicht, wie aus dem Nichts gesprungen. " Steht das Bild vor dem entzückten Blick. Wie anders, wenn Beck im kalten Winter in die Vorstadt hinauspilgert, in das „wilde Viertel," wo die Hütten morsch, wo frierende barfüßige Kinder verlassen und müßig hocken, wo Einer der noch einige Lumpen und Socken anhat, als ein Glückskind an¬ gestaunt wird, und findet da Was täglich und unverdrossen Nach Kehricht sucht in verpesteten Gossen; Was wie der Spatz nach Futter schweift, Was Töpfe flickt und Scheeren schleift, Was starren Fingers die Wäsche steift; Was keuchend schiebt des Karrens Wucht, Beladen mit kaum gereifter Frucht, Und weinerlich singt: wer kauft, wer kauft? Was um den Heller im Schmutze rauft; Was täglich an den Steinen der Ecken Den Gott besingt, an den es glaubt, Kaum wagt die Hände hinzustrecken, Dieweil das Betteln nicht erlaubt; Was tauben Ohrs in Hungers Nöthen Die Harfen spielt und bläst die Flöten, Jahr aus, Jahr ein denselben Chor — Vor allen Fenstern, an jedem Thor — Die Kindcrmagd zum Tanze stimmt, Doch selber nie das Lied vernimmt; Was Nachts die große Stadt erhellt Und selbst kein Licht im Hause hat; Was Lasten trägt, was Holz zerspellt, Was herrenlos, was herrensatt; Was beten und kuppeln und stehlen läuft, Den Rest des Gewissens wüst versauft. Ärcnzbot-ii, IZi«. I. ZZ

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/265
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/265>, abgerufen am 23.12.2024.