Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Wie Alpenglühen zum Himmel brennen,
Verbürgend ein herrlich Morgenroth,
Und gastlich gleich der Hütte des Sennen,
Sich öffnen dem müden Kind der Noth;
Gleich üppigen Matten und kühlendem Born
Die Seelen erquicken im schwülen Brande,
Wie Herdenglocken und Alpenhorn
Das Herz vermählen dem Vaterlande.
Denn auf den Alpen empfand ich die Wehen
Des Liedes das mir im Geist erwachte,
Als ich die Gesundheit der Erde gesehen
Und ihrer hinsiechenden Menschen gedachte.

Da wäre ich denn in Beck's "Lieder vom armen Mann" un¬
versehens schon mitten hineingerathen. Lächle nur lieber Leser!
Sprich: das war ein gewaltiger Anlauf, um mit einem kleinen
Sprunge über die Barriere eines geschickten Anfangs zu hüpfen!
Du hast Unrecht. Man kann Bento Liedern nicht anders beikom-
men, als indem man vor allen Dingen mit ihm auf den hohen
Berg klettert, von wo man den Ausblick nach allen Seiten, auf
alle Völker hin, auf die ganze Welt hat, und dann wieder mit
ihm herniedersteigt und den Schmutz und Qualm, das Elend und
den Jammer des menschlichen Lebens betrachtet.

Anders wäre es, wenn uns der-Dichter nur Bilder vorführte,
wie er sie aus dem vollen uns umringenden Leben hier und da
aufgegriffen hätte, um uns zu erschüttern, zu quälen, und dann
wieder durch irgend einen schönen, aus dem Schlamme der Misere,
gleich einer reizenden Teichrose, hervorblühenden, lieblichen Zug
von Menschlichkeit und Natürlichkeit zu besänftigen, zu versöhnen.
Aber damit begnügt er sich nicht. In jedem Tropfen Elend wel¬
chen er uns zeigt, spiegelt er uns den ganzen großen wilden
Ocean alles Elends unserer Zeit ab. Er läßt uns auch darüber
nicht in Zweifel, daß dies seine Absicht ist; er matt nichr blos mit
leichten, sichern, einfachen, meisterhaften Strichen jene mannichfalti-
gen Bilder, er verwebt sie vielmehr mit Resieclionen lind mit Win¬
ken über ihre tiefere Bedeutung: so gaben alte Maler den Figuren
ihrer Bilder Zettel in die Hand oder in den Mund, damit jeder
Betrachter gleich wüßte, was er bei diesen Gestalten und Gruppen
;u denken habe.


Wie Alpenglühen zum Himmel brennen,
Verbürgend ein herrlich Morgenroth,
Und gastlich gleich der Hütte des Sennen,
Sich öffnen dem müden Kind der Noth;
Gleich üppigen Matten und kühlendem Born
Die Seelen erquicken im schwülen Brande,
Wie Herdenglocken und Alpenhorn
Das Herz vermählen dem Vaterlande.
Denn auf den Alpen empfand ich die Wehen
Des Liedes das mir im Geist erwachte,
Als ich die Gesundheit der Erde gesehen
Und ihrer hinsiechenden Menschen gedachte.

Da wäre ich denn in Beck's „Lieder vom armen Mann" un¬
versehens schon mitten hineingerathen. Lächle nur lieber Leser!
Sprich: das war ein gewaltiger Anlauf, um mit einem kleinen
Sprunge über die Barriere eines geschickten Anfangs zu hüpfen!
Du hast Unrecht. Man kann Bento Liedern nicht anders beikom-
men, als indem man vor allen Dingen mit ihm auf den hohen
Berg klettert, von wo man den Ausblick nach allen Seiten, auf
alle Völker hin, auf die ganze Welt hat, und dann wieder mit
ihm herniedersteigt und den Schmutz und Qualm, das Elend und
den Jammer des menschlichen Lebens betrachtet.

Anders wäre es, wenn uns der-Dichter nur Bilder vorführte,
wie er sie aus dem vollen uns umringenden Leben hier und da
aufgegriffen hätte, um uns zu erschüttern, zu quälen, und dann
wieder durch irgend einen schönen, aus dem Schlamme der Misere,
gleich einer reizenden Teichrose, hervorblühenden, lieblichen Zug
von Menschlichkeit und Natürlichkeit zu besänftigen, zu versöhnen.
Aber damit begnügt er sich nicht. In jedem Tropfen Elend wel¬
chen er uns zeigt, spiegelt er uns den ganzen großen wilden
Ocean alles Elends unserer Zeit ab. Er läßt uns auch darüber
nicht in Zweifel, daß dies seine Absicht ist; er matt nichr blos mit
leichten, sichern, einfachen, meisterhaften Strichen jene mannichfalti-
gen Bilder, er verwebt sie vielmehr mit Resieclionen lind mit Win¬
ken über ihre tiefere Bedeutung: so gaben alte Maler den Figuren
ihrer Bilder Zettel in die Hand oder in den Mund, damit jeder
Betrachter gleich wüßte, was er bei diesen Gestalten und Gruppen
;u denken habe.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0263" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/182073"/>
          <lg xml:id="POEMID_61" prev="#POEMID_60" type="poem">
            <l> Wie Alpenglühen zum Himmel brennen,<lb/>
Verbürgend ein herrlich Morgenroth,<lb/>
Und gastlich gleich der Hütte des Sennen,<lb/>
Sich öffnen dem müden Kind der Noth;<lb/>
Gleich üppigen Matten und kühlendem Born<lb/>
Die Seelen erquicken im schwülen Brande,<lb/>
Wie Herdenglocken und Alpenhorn<lb/>
Das Herz vermählen dem Vaterlande.<lb/>
Denn auf den Alpen empfand ich die Wehen<lb/>
Des Liedes das mir im Geist erwachte,<lb/>
Als ich die Gesundheit der Erde gesehen<lb/>
Und ihrer hinsiechenden Menschen gedachte.</l>
          </lg><lb/>
          <p xml:id="ID_582"> Da wäre ich denn in Beck's &#x201E;Lieder vom armen Mann" un¬<lb/>
versehens schon mitten hineingerathen. Lächle nur lieber Leser!<lb/>
Sprich: das war ein gewaltiger Anlauf, um mit einem kleinen<lb/>
Sprunge über die Barriere eines geschickten Anfangs zu hüpfen!<lb/>
Du hast Unrecht. Man kann Bento Liedern nicht anders beikom-<lb/>
men, als indem man vor allen Dingen mit ihm auf den hohen<lb/>
Berg klettert, von wo man den Ausblick nach allen Seiten, auf<lb/>
alle Völker hin, auf die ganze Welt hat, und dann wieder mit<lb/>
ihm herniedersteigt und den Schmutz und Qualm, das Elend und<lb/>
den Jammer des menschlichen Lebens betrachtet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_583"> Anders wäre es, wenn uns der-Dichter nur Bilder vorführte,<lb/>
wie er sie aus dem vollen uns umringenden Leben hier und da<lb/>
aufgegriffen hätte, um uns zu erschüttern, zu quälen, und dann<lb/>
wieder durch irgend einen schönen, aus dem Schlamme der Misere,<lb/>
gleich einer reizenden Teichrose, hervorblühenden, lieblichen Zug<lb/>
von Menschlichkeit und Natürlichkeit zu besänftigen, zu versöhnen.<lb/>
Aber damit begnügt er sich nicht. In jedem Tropfen Elend wel¬<lb/>
chen er uns zeigt, spiegelt er uns den ganzen großen wilden<lb/>
Ocean alles Elends unserer Zeit ab. Er läßt uns auch darüber<lb/>
nicht in Zweifel, daß dies seine Absicht ist; er matt nichr blos mit<lb/>
leichten, sichern, einfachen, meisterhaften Strichen jene mannichfalti-<lb/>
gen Bilder, er verwebt sie vielmehr mit Resieclionen lind mit Win¬<lb/>
ken über ihre tiefere Bedeutung: so gaben alte Maler den Figuren<lb/>
ihrer Bilder Zettel in die Hand oder in den Mund, damit jeder<lb/>
Betrachter gleich wüßte, was er bei diesen Gestalten und Gruppen<lb/>
;u denken habe.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0263] Wie Alpenglühen zum Himmel brennen, Verbürgend ein herrlich Morgenroth, Und gastlich gleich der Hütte des Sennen, Sich öffnen dem müden Kind der Noth; Gleich üppigen Matten und kühlendem Born Die Seelen erquicken im schwülen Brande, Wie Herdenglocken und Alpenhorn Das Herz vermählen dem Vaterlande. Denn auf den Alpen empfand ich die Wehen Des Liedes das mir im Geist erwachte, Als ich die Gesundheit der Erde gesehen Und ihrer hinsiechenden Menschen gedachte. Da wäre ich denn in Beck's „Lieder vom armen Mann" un¬ versehens schon mitten hineingerathen. Lächle nur lieber Leser! Sprich: das war ein gewaltiger Anlauf, um mit einem kleinen Sprunge über die Barriere eines geschickten Anfangs zu hüpfen! Du hast Unrecht. Man kann Bento Liedern nicht anders beikom- men, als indem man vor allen Dingen mit ihm auf den hohen Berg klettert, von wo man den Ausblick nach allen Seiten, auf alle Völker hin, auf die ganze Welt hat, und dann wieder mit ihm herniedersteigt und den Schmutz und Qualm, das Elend und den Jammer des menschlichen Lebens betrachtet. Anders wäre es, wenn uns der-Dichter nur Bilder vorführte, wie er sie aus dem vollen uns umringenden Leben hier und da aufgegriffen hätte, um uns zu erschüttern, zu quälen, und dann wieder durch irgend einen schönen, aus dem Schlamme der Misere, gleich einer reizenden Teichrose, hervorblühenden, lieblichen Zug von Menschlichkeit und Natürlichkeit zu besänftigen, zu versöhnen. Aber damit begnügt er sich nicht. In jedem Tropfen Elend wel¬ chen er uns zeigt, spiegelt er uns den ganzen großen wilden Ocean alles Elends unserer Zeit ab. Er läßt uns auch darüber nicht in Zweifel, daß dies seine Absicht ist; er matt nichr blos mit leichten, sichern, einfachen, meisterhaften Strichen jene mannichfalti- gen Bilder, er verwebt sie vielmehr mit Resieclionen lind mit Win¬ ken über ihre tiefere Bedeutung: so gaben alte Maler den Figuren ihrer Bilder Zettel in die Hand oder in den Mund, damit jeder Betrachter gleich wüßte, was er bei diesen Gestalten und Gruppen ;u denken habe.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/263
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/263>, abgerufen am 23.12.2024.