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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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und "macht" in Cochenille. Die sogenannten gebildeten Klassen
sind dem Geiste der Zeit gefolgt; der Adel eristirt nur noch auf
dem Pergament, die wahre Aristokratie haftet an Dublonen und
Piastern.

Die prachtvollen Paläste, wo einst die adeligen Familien haus¬
ten, sind jetzt größtenteils parcellirt und dienen mehreren bürger¬
lichen Familien zur Wohnung, Kaum daß noch einige Granden,
wie der Herzog von Osanna und der Herzog von San-Fernando,
den erblichen Wohnsitz ihrer Vorfahren pietätövoll fortbewohnen.
Aber diese Edelleute sind auch Millionäre, die unter der ruinirten
Noblesse von Spanien eine Ausnahme bilden. Ueberhaupt aber
verliert sich der Adelsstolz vor dem Geiste des Handels und der
Industrie. Sonst rühmten sich selbst Bastarde in Spanien ihrer
adeligen Abkunft "ohne Flecken," jetzt denken kaum die legitimen
Adclssöhnc daran, sich eine besondere Ehre daraus zu machen.

Jene Fragen über Geburt und Herkunft, die sonst unübersteig-
liche Grenzlinien zwischen einzelnen Häusern bildeten, haben in der
Madrider Gesellschaft ganz aufgehört. Mehr als eine Mesalliance,
die einst für monströs gegolten hätte, wird heutzutage geschlossen,
ohne das geringste Aufsehen zu machen. Wenn der junge Don
sein Erbtheil verschwendet hat, wirbt er um eine reiche Erbin, ohne
sich viel nach ihrem Stammbaum zu erkundigen. Nicht das Blut
will er kennen, das in den Adern seiner Braut rinnt, -- ihre Rente,
das ist die Hauptfrage.

Die hohe Handels-und die reiche Bürgerwelt bestrebt sich nach
dem Vorbild des Madrider Adels, auch die altmodischen spanischen
Gewohnheiten abzulegen und sich auf englischem oder französischem
Fuß einzurichten. Wer den geringsten Anspruch auf Lebensart
macht, hütet sich, um Mittag zu Mittag zu essen, oder auf deutsch
zu diniren, denn dies wäre gegen alle moderne Aufklärung; die
einst so berühmte spanische Chocolade hat, als ein unzeitge¬
mäßes Getränk, dem Kaffee weichen müssen, und in gewisse,:
Bürgerfamilien setzt man einen Stolz darein, jeden Abend seinen
Gästen einen Ocean von Thee in den Leib zu gießen, gerade wie
es unter dem Nebelhimmel Londons Mode ist. Die am weitesten
vorgeschritten sind, affectiren sogar einen unaussprechlichen Abscheu
gegen die Stiergefechte und gehen lieber ins Theater <IeI ?ii",cip"


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und „macht" in Cochenille. Die sogenannten gebildeten Klassen
sind dem Geiste der Zeit gefolgt; der Adel eristirt nur noch auf
dem Pergament, die wahre Aristokratie haftet an Dublonen und
Piastern.

Die prachtvollen Paläste, wo einst die adeligen Familien haus¬
ten, sind jetzt größtenteils parcellirt und dienen mehreren bürger¬
lichen Familien zur Wohnung, Kaum daß noch einige Granden,
wie der Herzog von Osanna und der Herzog von San-Fernando,
den erblichen Wohnsitz ihrer Vorfahren pietätövoll fortbewohnen.
Aber diese Edelleute sind auch Millionäre, die unter der ruinirten
Noblesse von Spanien eine Ausnahme bilden. Ueberhaupt aber
verliert sich der Adelsstolz vor dem Geiste des Handels und der
Industrie. Sonst rühmten sich selbst Bastarde in Spanien ihrer
adeligen Abkunft „ohne Flecken," jetzt denken kaum die legitimen
Adclssöhnc daran, sich eine besondere Ehre daraus zu machen.

Jene Fragen über Geburt und Herkunft, die sonst unübersteig-
liche Grenzlinien zwischen einzelnen Häusern bildeten, haben in der
Madrider Gesellschaft ganz aufgehört. Mehr als eine Mesalliance,
die einst für monströs gegolten hätte, wird heutzutage geschlossen,
ohne das geringste Aufsehen zu machen. Wenn der junge Don
sein Erbtheil verschwendet hat, wirbt er um eine reiche Erbin, ohne
sich viel nach ihrem Stammbaum zu erkundigen. Nicht das Blut
will er kennen, das in den Adern seiner Braut rinnt, — ihre Rente,
das ist die Hauptfrage.

Die hohe Handels-und die reiche Bürgerwelt bestrebt sich nach
dem Vorbild des Madrider Adels, auch die altmodischen spanischen
Gewohnheiten abzulegen und sich auf englischem oder französischem
Fuß einzurichten. Wer den geringsten Anspruch auf Lebensart
macht, hütet sich, um Mittag zu Mittag zu essen, oder auf deutsch
zu diniren, denn dies wäre gegen alle moderne Aufklärung; die
einst so berühmte spanische Chocolade hat, als ein unzeitge¬
mäßes Getränk, dem Kaffee weichen müssen, und in gewisse,:
Bürgerfamilien setzt man einen Stolz darein, jeden Abend seinen
Gästen einen Ocean von Thee in den Leib zu gießen, gerade wie
es unter dem Nebelhimmel Londons Mode ist. Die am weitesten
vorgeschritten sind, affectiren sogar einen unaussprechlichen Abscheu
gegen die Stiergefechte und gehen lieber ins Theater <IeI ?ii»,cip«


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[0229] und „macht" in Cochenille. Die sogenannten gebildeten Klassen sind dem Geiste der Zeit gefolgt; der Adel eristirt nur noch auf dem Pergament, die wahre Aristokratie haftet an Dublonen und Piastern. Die prachtvollen Paläste, wo einst die adeligen Familien haus¬ ten, sind jetzt größtenteils parcellirt und dienen mehreren bürger¬ lichen Familien zur Wohnung, Kaum daß noch einige Granden, wie der Herzog von Osanna und der Herzog von San-Fernando, den erblichen Wohnsitz ihrer Vorfahren pietätövoll fortbewohnen. Aber diese Edelleute sind auch Millionäre, die unter der ruinirten Noblesse von Spanien eine Ausnahme bilden. Ueberhaupt aber verliert sich der Adelsstolz vor dem Geiste des Handels und der Industrie. Sonst rühmten sich selbst Bastarde in Spanien ihrer adeligen Abkunft „ohne Flecken," jetzt denken kaum die legitimen Adclssöhnc daran, sich eine besondere Ehre daraus zu machen. Jene Fragen über Geburt und Herkunft, die sonst unübersteig- liche Grenzlinien zwischen einzelnen Häusern bildeten, haben in der Madrider Gesellschaft ganz aufgehört. Mehr als eine Mesalliance, die einst für monströs gegolten hätte, wird heutzutage geschlossen, ohne das geringste Aufsehen zu machen. Wenn der junge Don sein Erbtheil verschwendet hat, wirbt er um eine reiche Erbin, ohne sich viel nach ihrem Stammbaum zu erkundigen. Nicht das Blut will er kennen, das in den Adern seiner Braut rinnt, — ihre Rente, das ist die Hauptfrage. Die hohe Handels-und die reiche Bürgerwelt bestrebt sich nach dem Vorbild des Madrider Adels, auch die altmodischen spanischen Gewohnheiten abzulegen und sich auf englischem oder französischem Fuß einzurichten. Wer den geringsten Anspruch auf Lebensart macht, hütet sich, um Mittag zu Mittag zu essen, oder auf deutsch zu diniren, denn dies wäre gegen alle moderne Aufklärung; die einst so berühmte spanische Chocolade hat, als ein unzeitge¬ mäßes Getränk, dem Kaffee weichen müssen, und in gewisse,: Bürgerfamilien setzt man einen Stolz darein, jeden Abend seinen Gästen einen Ocean von Thee in den Leib zu gießen, gerade wie es unter dem Nebelhimmel Londons Mode ist. Die am weitesten vorgeschritten sind, affectiren sogar einen unaussprechlichen Abscheu gegen die Stiergefechte und gehen lieber ins Theater <IeI ?ii»,cip« 3^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/229>, abgerufen am 23.12.2024.