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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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Werber den deutschen Arbeitern keine goldenen Berge vorspiegelten?
Ob sie ihnen ihre Versprechungen ausdrücklich und schriftlich garan¬
tieren? Ob sich die armen Leute die Art ihrer Bestimmung und die
Bedingungen ihrer Reise klar gemacht, oder ob sie sich durch allge¬
meine Schönmalereien beschwatzen ließen? Als man den Unglückli¬
chen in Dünkirchen ihre letzten Groschen abpreßte, war kein deutscher
Consul in Havre, in Calais, oder an Ort und Stelle selbst, der sich
ihrer gegen die Habsucht des Hauses Delrue annehmen konnte ? Sind
die neunzehnhundert Arbeiter endlich von Brasilien selbst betrogen
und verrathen worden, will man ihnen jetzt rechtmäßige Forderungen
und gültige Zusagen nicht erfüllen, so müßte es ja mit allen Wun¬
dern zugehen, wenn Deutschlands Machte, bei aller Ohnmacht zur
See, nicht von einem Staate wie Brasilien sollten Genugthuung er¬
langen können für neunzehnhundert verkaufte Seelen. Aber
wahrscheinlich ist an dem ganzen Jammer weder Joinville noch Rio
Janeiro, sondern weiter Niemand wieder Schuld, als die unbegreif¬
liche Leichtgläubigkeit und -- Dummheit unseres guten deutschen
Volkes. In andern Ländern ist man ignoranter und lernt nicht
so viel Geographie und Geschichte, wie bei uns, doch hat man kein
Beispiel, daß sich Franzosen oder Jrländer so schmählich anführen
ließen. Hundertmal ist nachgewiesen worden, und täglich lehrt die
Erfahrung, daß nur die Auswanderung nach Nordamerika -- mit
den nöthigen Hülfsmitteln unternommen -- die Traume der Euro¬
pamüden zu erfüllen pflegt: dennoch lassen sich jährlich Tausende
nach allen Weltgegenden, nach Rußland und Polen, nach Algier und
Sanct Thomas, nach der Wallachei und Brasilien locken. Wo es
nur einen Sumpf des Elends und ein Netz der Sklaverei giebt, da
muß der Deutsche hineinplumpen. Und wie ist Dem zu helfen, der
sich so gerne selbst verkauft? --

-- Die Zeiten werden nie so schlecht, daß der Humor in Deutsch¬
land ganz verloren ginge. Wenn er uns einmal vor lauter Censur-
instructionen und geheimen Verordnungen vergehen sollte, so wird
er in den deutschen Buchhändlerannoncen fortleben. Jeder vollstän¬
dig Ostermeß- oder ein großer Leihbibliothckenkatalog enthält eine
Fundgrube unfreiwilliger Komik, man braucht aber nur täglich die
großen Zeitungen zu lesen, d. h. die Jnseratblatter, welche oft allen
Esprit ihrer Feuilletons aufwiegen, um sich mit der Zeit einen Haus¬
schatz humoristischer Einfälle zu sammeln. Allerliebst ist der neuste
Jnseratenkrieg zwischen dem Herrn Kollmann und Philipp! in der
Deutschen Allgemeinen Zeitung. Kaum sind die Anathemata der Kri¬
tik über die Erzeugnisse der französischen Frivolität und Unnatur
verhallt, kaum sind unsere nationalen gründlichen Verbiete über die
verwerflichen Bücher Eugen Sue's, und die pikanten Anekdoten über


Werber den deutschen Arbeitern keine goldenen Berge vorspiegelten?
Ob sie ihnen ihre Versprechungen ausdrücklich und schriftlich garan¬
tieren? Ob sich die armen Leute die Art ihrer Bestimmung und die
Bedingungen ihrer Reise klar gemacht, oder ob sie sich durch allge¬
meine Schönmalereien beschwatzen ließen? Als man den Unglückli¬
chen in Dünkirchen ihre letzten Groschen abpreßte, war kein deutscher
Consul in Havre, in Calais, oder an Ort und Stelle selbst, der sich
ihrer gegen die Habsucht des Hauses Delrue annehmen konnte ? Sind
die neunzehnhundert Arbeiter endlich von Brasilien selbst betrogen
und verrathen worden, will man ihnen jetzt rechtmäßige Forderungen
und gültige Zusagen nicht erfüllen, so müßte es ja mit allen Wun¬
dern zugehen, wenn Deutschlands Machte, bei aller Ohnmacht zur
See, nicht von einem Staate wie Brasilien sollten Genugthuung er¬
langen können für neunzehnhundert verkaufte Seelen. Aber
wahrscheinlich ist an dem ganzen Jammer weder Joinville noch Rio
Janeiro, sondern weiter Niemand wieder Schuld, als die unbegreif¬
liche Leichtgläubigkeit und — Dummheit unseres guten deutschen
Volkes. In andern Ländern ist man ignoranter und lernt nicht
so viel Geographie und Geschichte, wie bei uns, doch hat man kein
Beispiel, daß sich Franzosen oder Jrländer so schmählich anführen
ließen. Hundertmal ist nachgewiesen worden, und täglich lehrt die
Erfahrung, daß nur die Auswanderung nach Nordamerika — mit
den nöthigen Hülfsmitteln unternommen — die Traume der Euro¬
pamüden zu erfüllen pflegt: dennoch lassen sich jährlich Tausende
nach allen Weltgegenden, nach Rußland und Polen, nach Algier und
Sanct Thomas, nach der Wallachei und Brasilien locken. Wo es
nur einen Sumpf des Elends und ein Netz der Sklaverei giebt, da
muß der Deutsche hineinplumpen. Und wie ist Dem zu helfen, der
sich so gerne selbst verkauft? —

— Die Zeiten werden nie so schlecht, daß der Humor in Deutsch¬
land ganz verloren ginge. Wenn er uns einmal vor lauter Censur-
instructionen und geheimen Verordnungen vergehen sollte, so wird
er in den deutschen Buchhändlerannoncen fortleben. Jeder vollstän¬
dig Ostermeß- oder ein großer Leihbibliothckenkatalog enthält eine
Fundgrube unfreiwilliger Komik, man braucht aber nur täglich die
großen Zeitungen zu lesen, d. h. die Jnseratblatter, welche oft allen
Esprit ihrer Feuilletons aufwiegen, um sich mit der Zeit einen Haus¬
schatz humoristischer Einfälle zu sammeln. Allerliebst ist der neuste
Jnseratenkrieg zwischen dem Herrn Kollmann und Philipp! in der
Deutschen Allgemeinen Zeitung. Kaum sind die Anathemata der Kri¬
tik über die Erzeugnisse der französischen Frivolität und Unnatur
verhallt, kaum sind unsere nationalen gründlichen Verbiete über die
verwerflichen Bücher Eugen Sue's, und die pikanten Anekdoten über


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[0102] Werber den deutschen Arbeitern keine goldenen Berge vorspiegelten? Ob sie ihnen ihre Versprechungen ausdrücklich und schriftlich garan¬ tieren? Ob sich die armen Leute die Art ihrer Bestimmung und die Bedingungen ihrer Reise klar gemacht, oder ob sie sich durch allge¬ meine Schönmalereien beschwatzen ließen? Als man den Unglückli¬ chen in Dünkirchen ihre letzten Groschen abpreßte, war kein deutscher Consul in Havre, in Calais, oder an Ort und Stelle selbst, der sich ihrer gegen die Habsucht des Hauses Delrue annehmen konnte ? Sind die neunzehnhundert Arbeiter endlich von Brasilien selbst betrogen und verrathen worden, will man ihnen jetzt rechtmäßige Forderungen und gültige Zusagen nicht erfüllen, so müßte es ja mit allen Wun¬ dern zugehen, wenn Deutschlands Machte, bei aller Ohnmacht zur See, nicht von einem Staate wie Brasilien sollten Genugthuung er¬ langen können für neunzehnhundert verkaufte Seelen. Aber wahrscheinlich ist an dem ganzen Jammer weder Joinville noch Rio Janeiro, sondern weiter Niemand wieder Schuld, als die unbegreif¬ liche Leichtgläubigkeit und — Dummheit unseres guten deutschen Volkes. In andern Ländern ist man ignoranter und lernt nicht so viel Geographie und Geschichte, wie bei uns, doch hat man kein Beispiel, daß sich Franzosen oder Jrländer so schmählich anführen ließen. Hundertmal ist nachgewiesen worden, und täglich lehrt die Erfahrung, daß nur die Auswanderung nach Nordamerika — mit den nöthigen Hülfsmitteln unternommen — die Traume der Euro¬ pamüden zu erfüllen pflegt: dennoch lassen sich jährlich Tausende nach allen Weltgegenden, nach Rußland und Polen, nach Algier und Sanct Thomas, nach der Wallachei und Brasilien locken. Wo es nur einen Sumpf des Elends und ein Netz der Sklaverei giebt, da muß der Deutsche hineinplumpen. Und wie ist Dem zu helfen, der sich so gerne selbst verkauft? — — Die Zeiten werden nie so schlecht, daß der Humor in Deutsch¬ land ganz verloren ginge. Wenn er uns einmal vor lauter Censur- instructionen und geheimen Verordnungen vergehen sollte, so wird er in den deutschen Buchhändlerannoncen fortleben. Jeder vollstän¬ dig Ostermeß- oder ein großer Leihbibliothckenkatalog enthält eine Fundgrube unfreiwilliger Komik, man braucht aber nur täglich die großen Zeitungen zu lesen, d. h. die Jnseratblatter, welche oft allen Esprit ihrer Feuilletons aufwiegen, um sich mit der Zeit einen Haus¬ schatz humoristischer Einfälle zu sammeln. Allerliebst ist der neuste Jnseratenkrieg zwischen dem Herrn Kollmann und Philipp! in der Deutschen Allgemeinen Zeitung. Kaum sind die Anathemata der Kri¬ tik über die Erzeugnisse der französischen Frivolität und Unnatur verhallt, kaum sind unsere nationalen gründlichen Verbiete über die verwerflichen Bücher Eugen Sue's, und die pikanten Anekdoten über

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/102>, abgerufen am 23.12.2024.