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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.

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IV.
Die Gelehrten in der Opposition.

Seit Jahren haben die Vorkämpfer der öffentlichen Meinung in
Deutschland die sonderbarsten Vorwürfe hören müssen. Wenn man
zeitgemäße Institutionen verlangte, hieß es: Ihr kennt nur den Tag,
ihr versteht nicht die Zeit und ihre historischen Grundlagen; wenn
man auf das Beispiel der westlichen Staaten zeigte, hieß es: Ihr
kennt nicht das Volk und seine historischen Wurzeln; wenn man die
nothwendigsten Reparaturen am baufälligen Staatsgebäude forderte,
schrie man: Ihr wollt das Haus einstürzen, ihr kennt seinen Grund
nicht gründlich genug. Kurz, die Presse war ein verlorener Posten,
und ihre Streiter wurden nicht blos von den Cabinetten, sondern
auch von einer Majorität des ehrbaren deutschen Publimms als
Schreier und Windmacher angesehen; es waren ja bloße Schreiber,
jüngere Leute ohne Titel und Diplome, ohne Aemter und Anstellun¬
gen. Jetzt endlich kommen die Gelehrten nachgerückt mit dem schwe¬
ren Geschütz ihrer dicken Bücher und lassen sich allmälig herab, aus
die Angelegenheiten der Gegenwart einzugehen. Und was sagen die
geweihten Hohepriester, deren Schweigen bisher so diplomatisch aus¬
gelegt wurde, auf deren faltenreiche Stirn und vornehmes Achselzucken
man sich so wirksam zu berufen pflegte? Was sagen sie, bei ihrer
Heimkehr aus den Katakomben der Vergangenheit, aus den Labyrin¬
then der Forschung in fremden Mythologien und Antiquitäten? Sie,
welche nicht blos den Tag, sondern die Zeit und ihre Vor- und Ur¬
zeit kennen? Sie, die mit den historischen Wurzeln des Volkes nicht
unbekannt sind, und die den Grund des Staatsgebäudes mit Maul¬
wurfsgründlichkeit studirt haben? Nun sie sagen: "Es ist doch et¬
was Wahres, sehr viel Wahres ist an Dem, was die flachen Zei¬
tungsschreiber so laut gepredigt haben. Wir müssen Preßfreiheit und
eine nationale Gesetzgebung haben, obgleich die Franzosen dasselbe vor
uns besaßen. Es nützt Nichts, wir haben vergebens unsere prophe¬
tischen dicken Bücher befragt, sie geben keine andere Antwort/' Ja,
es sind die Koryphäen der Wissenschaft, Männer wie Schlosser, Ger-
vinus, Dahlmann, Mohl, die seit einiger Zeit in die Kämpfe der Ge¬
genwart hineingezogen werden und fast in allen Punkten sich auf die
Seite des jüngern Deutschlands unter die Fahne der "schlechten
Presse" gestellt haben. So erfreulich diese Erscheinung wirkt, so un¬
erquicklich ist es zu sehen, wie sophistisch man die Stimme der Ge¬
lehrten deutet, sobald sie einmal für die Wünsche deS Volkes aus¬
fällt, und wie schnell die Reactionäre jene Weisheit und Wissenschaft
desavouiren, auf welche sie sich so lange berufen haben. Kaum hat
der gefeierte Dahlmann in seinen Geschichten der englischen und frau-


IV.
Die Gelehrten in der Opposition.

Seit Jahren haben die Vorkämpfer der öffentlichen Meinung in
Deutschland die sonderbarsten Vorwürfe hören müssen. Wenn man
zeitgemäße Institutionen verlangte, hieß es: Ihr kennt nur den Tag,
ihr versteht nicht die Zeit und ihre historischen Grundlagen; wenn
man auf das Beispiel der westlichen Staaten zeigte, hieß es: Ihr
kennt nicht das Volk und seine historischen Wurzeln; wenn man die
nothwendigsten Reparaturen am baufälligen Staatsgebäude forderte,
schrie man: Ihr wollt das Haus einstürzen, ihr kennt seinen Grund
nicht gründlich genug. Kurz, die Presse war ein verlorener Posten,
und ihre Streiter wurden nicht blos von den Cabinetten, sondern
auch von einer Majorität des ehrbaren deutschen Publimms als
Schreier und Windmacher angesehen; es waren ja bloße Schreiber,
jüngere Leute ohne Titel und Diplome, ohne Aemter und Anstellun¬
gen. Jetzt endlich kommen die Gelehrten nachgerückt mit dem schwe¬
ren Geschütz ihrer dicken Bücher und lassen sich allmälig herab, aus
die Angelegenheiten der Gegenwart einzugehen. Und was sagen die
geweihten Hohepriester, deren Schweigen bisher so diplomatisch aus¬
gelegt wurde, auf deren faltenreiche Stirn und vornehmes Achselzucken
man sich so wirksam zu berufen pflegte? Was sagen sie, bei ihrer
Heimkehr aus den Katakomben der Vergangenheit, aus den Labyrin¬
then der Forschung in fremden Mythologien und Antiquitäten? Sie,
welche nicht blos den Tag, sondern die Zeit und ihre Vor- und Ur¬
zeit kennen? Sie, die mit den historischen Wurzeln des Volkes nicht
unbekannt sind, und die den Grund des Staatsgebäudes mit Maul¬
wurfsgründlichkeit studirt haben? Nun sie sagen: „Es ist doch et¬
was Wahres, sehr viel Wahres ist an Dem, was die flachen Zei¬
tungsschreiber so laut gepredigt haben. Wir müssen Preßfreiheit und
eine nationale Gesetzgebung haben, obgleich die Franzosen dasselbe vor
uns besaßen. Es nützt Nichts, wir haben vergebens unsere prophe¬
tischen dicken Bücher befragt, sie geben keine andere Antwort/' Ja,
es sind die Koryphäen der Wissenschaft, Männer wie Schlosser, Ger-
vinus, Dahlmann, Mohl, die seit einiger Zeit in die Kämpfe der Ge¬
genwart hineingezogen werden und fast in allen Punkten sich auf die
Seite des jüngern Deutschlands unter die Fahne der „schlechten
Presse" gestellt haben. So erfreulich diese Erscheinung wirkt, so un¬
erquicklich ist es zu sehen, wie sophistisch man die Stimme der Ge¬
lehrten deutet, sobald sie einmal für die Wünsche deS Volkes aus¬
fällt, und wie schnell die Reactionäre jene Weisheit und Wissenschaft
desavouiren, auf welche sie sich so lange berufen haben. Kaum hat
der gefeierte Dahlmann in seinen Geschichten der englischen und frau-


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[0604] IV. Die Gelehrten in der Opposition. Seit Jahren haben die Vorkämpfer der öffentlichen Meinung in Deutschland die sonderbarsten Vorwürfe hören müssen. Wenn man zeitgemäße Institutionen verlangte, hieß es: Ihr kennt nur den Tag, ihr versteht nicht die Zeit und ihre historischen Grundlagen; wenn man auf das Beispiel der westlichen Staaten zeigte, hieß es: Ihr kennt nicht das Volk und seine historischen Wurzeln; wenn man die nothwendigsten Reparaturen am baufälligen Staatsgebäude forderte, schrie man: Ihr wollt das Haus einstürzen, ihr kennt seinen Grund nicht gründlich genug. Kurz, die Presse war ein verlorener Posten, und ihre Streiter wurden nicht blos von den Cabinetten, sondern auch von einer Majorität des ehrbaren deutschen Publimms als Schreier und Windmacher angesehen; es waren ja bloße Schreiber, jüngere Leute ohne Titel und Diplome, ohne Aemter und Anstellun¬ gen. Jetzt endlich kommen die Gelehrten nachgerückt mit dem schwe¬ ren Geschütz ihrer dicken Bücher und lassen sich allmälig herab, aus die Angelegenheiten der Gegenwart einzugehen. Und was sagen die geweihten Hohepriester, deren Schweigen bisher so diplomatisch aus¬ gelegt wurde, auf deren faltenreiche Stirn und vornehmes Achselzucken man sich so wirksam zu berufen pflegte? Was sagen sie, bei ihrer Heimkehr aus den Katakomben der Vergangenheit, aus den Labyrin¬ then der Forschung in fremden Mythologien und Antiquitäten? Sie, welche nicht blos den Tag, sondern die Zeit und ihre Vor- und Ur¬ zeit kennen? Sie, die mit den historischen Wurzeln des Volkes nicht unbekannt sind, und die den Grund des Staatsgebäudes mit Maul¬ wurfsgründlichkeit studirt haben? Nun sie sagen: „Es ist doch et¬ was Wahres, sehr viel Wahres ist an Dem, was die flachen Zei¬ tungsschreiber so laut gepredigt haben. Wir müssen Preßfreiheit und eine nationale Gesetzgebung haben, obgleich die Franzosen dasselbe vor uns besaßen. Es nützt Nichts, wir haben vergebens unsere prophe¬ tischen dicken Bücher befragt, sie geben keine andere Antwort/' Ja, es sind die Koryphäen der Wissenschaft, Männer wie Schlosser, Ger- vinus, Dahlmann, Mohl, die seit einiger Zeit in die Kämpfe der Ge¬ genwart hineingezogen werden und fast in allen Punkten sich auf die Seite des jüngern Deutschlands unter die Fahne der „schlechten Presse" gestellt haben. So erfreulich diese Erscheinung wirkt, so un¬ erquicklich ist es zu sehen, wie sophistisch man die Stimme der Ge¬ lehrten deutet, sobald sie einmal für die Wünsche deS Volkes aus¬ fällt, und wie schnell die Reactionäre jene Weisheit und Wissenschaft desavouiren, auf welche sie sich so lange berufen haben. Kaum hat der gefeierte Dahlmann in seinen Geschichten der englischen und frau-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/604>, abgerufen am 05.02.2025.