Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.London! rief mein Nachbar und zeigte auf das Fenster. Ein Meer London! rief mein Nachbar und zeigte auf das Fenster. Ein Meer <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0540" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/271801"/> <p xml:id="ID_1443" prev="#ID_1442" next="#ID_1444"> London! rief mein Nachbar und zeigte auf das Fenster. Ein Meer<lb/> von Dächern und Thürmen, aus dem die zahllosen Lichter strahlte»,<lb/> wie die Sterne, in den Fluchen des Oceans widerscheinend, breitete<lb/> sich unter uns und um uns aus. Sind wir an Ort und Stelle?<lb/> fragte ich. — O nein, aber wir sind schon eine geraume Weile in<lb/> London. — London ist ein großer Ort (->, I-n-g-o mint-v), sagte ein<lb/> Anderer; man weiß nicht recht, wo eS anfängt und wo es aufhört.<lb/> — So jagten und rasselten wir noch fast eine Viertelstunde mit<lb/> Dampf und drangen doch nur durch die Schale der Riesenfrucht, bis<lb/> wir endlich an der London-Brücke Halt machten und in einem un¬<lb/> geheuern überdachten Bahnhof ausstiegen. Es war halb eilf in der<lb/> Nacht, und guter Rath ziemlich theuer. Welchem unter den vielen,<lb/> vielen Omnibusses, die zu packen und sich mit Menschen zu füllen<lb/> anfingen, sollte ich mich anvertrauen? Ich hatte diesen Morgen von<lb/> einem Wirth in Ostende eine Adresse an ein deutsches Kaffeehaus<lb/> in Leicestersquare, Cranbournstreet, Earlscourt mitgenommen, aber di¬<lb/> rekt bis dahin ging kein 'büß, wie mir versichert wurde. Endlich<lb/> sprang ich in einen Wagen, der nach Haymarket fuhr. Ein alter<lb/> Herr, mit einem perrückenartigen grauen Lockenwald auf dem Kopfe,<lb/> dem ich mich als einen deutschen Neuling zu erkennen gab, nahm<lb/> sich meiner sehr wohlwollend an; denn, sagte er, die Deutschen seien<lb/> ihm lieb und er habe sogar früher deutsch gesprochen, als er in<lb/> „Gotting" studirte, vor fünfzig Jahren. Er zeigte mir, auf der Fahrt<lb/> durch die City, die bereits im Schlummer lag, das Bankgebäude, die<lb/> Post, Mansionhouse und Temple-Bar. Sehr düster kamen mir die<lb/> langen, leeren Straßen vor, sehr altmodisch die massiven, schwarzen<lb/> Paläste mit den niedrigen Thürmen und hohen Nauchfängen; und<lb/> mein altvaterischer Cicerone, der dann und wann seine goldne Thurm¬<lb/> uhr aus der Tasche zog, diente nur dazu, diesen Eindruck zu verstär¬<lb/> ken. Es war halb zwölf, alö mein Freund halten ließ und mir den<lb/> Rath gab, einen Führer nach Cranbournstreet zu nehmen, den der<lb/> Omnibuömcmn auch sogleich herbeigewi'ille hatte. Ich drückte dem<lb/> „Studenten von Gotting" dankbar die Hand und machte mich mit<lb/> dem Träger meines Felleisens auf den Weg. Er selbst, der gute<lb/> Alte nämlich, hatte noch ziemlich weit zu „reisen", bis er nach Hause<lb/> kam, und ich konnte mich nicht enthalten, mir tausend verschiedene<lb/> Vorstellungen über sein Loos zu machen. Unwillkürlich fiel mir der</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0540]
London! rief mein Nachbar und zeigte auf das Fenster. Ein Meer
von Dächern und Thürmen, aus dem die zahllosen Lichter strahlte»,
wie die Sterne, in den Fluchen des Oceans widerscheinend, breitete
sich unter uns und um uns aus. Sind wir an Ort und Stelle?
fragte ich. — O nein, aber wir sind schon eine geraume Weile in
London. — London ist ein großer Ort (->, I-n-g-o mint-v), sagte ein
Anderer; man weiß nicht recht, wo eS anfängt und wo es aufhört.
— So jagten und rasselten wir noch fast eine Viertelstunde mit
Dampf und drangen doch nur durch die Schale der Riesenfrucht, bis
wir endlich an der London-Brücke Halt machten und in einem un¬
geheuern überdachten Bahnhof ausstiegen. Es war halb eilf in der
Nacht, und guter Rath ziemlich theuer. Welchem unter den vielen,
vielen Omnibusses, die zu packen und sich mit Menschen zu füllen
anfingen, sollte ich mich anvertrauen? Ich hatte diesen Morgen von
einem Wirth in Ostende eine Adresse an ein deutsches Kaffeehaus
in Leicestersquare, Cranbournstreet, Earlscourt mitgenommen, aber di¬
rekt bis dahin ging kein 'büß, wie mir versichert wurde. Endlich
sprang ich in einen Wagen, der nach Haymarket fuhr. Ein alter
Herr, mit einem perrückenartigen grauen Lockenwald auf dem Kopfe,
dem ich mich als einen deutschen Neuling zu erkennen gab, nahm
sich meiner sehr wohlwollend an; denn, sagte er, die Deutschen seien
ihm lieb und er habe sogar früher deutsch gesprochen, als er in
„Gotting" studirte, vor fünfzig Jahren. Er zeigte mir, auf der Fahrt
durch die City, die bereits im Schlummer lag, das Bankgebäude, die
Post, Mansionhouse und Temple-Bar. Sehr düster kamen mir die
langen, leeren Straßen vor, sehr altmodisch die massiven, schwarzen
Paläste mit den niedrigen Thürmen und hohen Nauchfängen; und
mein altvaterischer Cicerone, der dann und wann seine goldne Thurm¬
uhr aus der Tasche zog, diente nur dazu, diesen Eindruck zu verstär¬
ken. Es war halb zwölf, alö mein Freund halten ließ und mir den
Rath gab, einen Führer nach Cranbournstreet zu nehmen, den der
Omnibuömcmn auch sogleich herbeigewi'ille hatte. Ich drückte dem
„Studenten von Gotting" dankbar die Hand und machte mich mit
dem Träger meines Felleisens auf den Weg. Er selbst, der gute
Alte nämlich, hatte noch ziemlich weit zu „reisen", bis er nach Hause
kam, und ich konnte mich nicht enthalten, mir tausend verschiedene
Vorstellungen über sein Loos zu machen. Unwillkürlich fiel mir der
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