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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.

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Auch auf der Eisenbahn findet man noch einen Nest von alt-
englische", Kasten- und Geldkistengeist. Zwischen den Wagen erster
und dritter Klasse ist eine Kluft, nicht wie zwischen Reich und Arm,
sondern wie zwischen NabobS und Bettlern, wie zwischen Pallmall
und Newgate. In Deutschland und Belgien ist die wohlfeile dritte
Wagenklasse für das Volk eingerichtet und es kann zur Noth, bei
schönem Wetter, auch ein Gentleman sich unter das Volk mischen.
Hier aber wird das ärmere Volk entweder vom Genusse der Eisen¬
bahnen ganz ausgeschlossen -- denn die zweite Klasse ist schon an¬
sehnlich theuer -- oder es muß sich als mob, als Canaille behan¬
deln lassen. Die Wagen dritter Klasse sind nicht nur ohne Dach,
sondern auch ohne Sitze: leere hölzerne Kasten, durch zwei gekreuzte
Balken in vier Abtheilungen geschieden, in welche die Passagiere ste¬
hend und dicht zusammengedrängt werden, wie die Schafe in der
Hürde oder wie die Neger im Sklavenschiff. -- Dagegen verhält
sich der englische Dampf zum deutschen, wie ein Wettrenner zum
Karrengaul. Die Strecke von Dover nach London legt man in nicht
ganz vier Stunden zurück und das gilt für eine mittlere Geschwin¬
digkeit, Man passirt dabei mehrere endlose, durch Felsen gehauene
Tunnels. Der Abend hatte sich aufgeheitert und ich sah, in die Ecke
meines mit polirtem Holz ausgetäfelten Wagens zweiter Klasse ge¬
drückt, die erquickend grünen Landschaften wie im Guckkasten vorüber-
fliegen. Meine Reisegefährten auf den drei übrigen Plätzen waren
einsylbig, aber freundlich, und pflegten, da sie meine Neugier bemerk¬
ten, mir die Namen einzelner Orte zu nennen. Die kleine Seestadt
Folkestone sieht man von der Bahn, wie von der Höhe eines Ber¬
ges, im Schooß einer kleinen Bucht liegen; ein Kirchthmm von
Folkestone, dem gegenüber der Mast eines großen Schiffes auf dem
Seespiegel tanzte, -- beides in der Entfernung wie Spielzeug anzu¬
sehen, -- bot ein hübsches Miniaturbild. Ein anderesmal sah ich
ein echt englisches Genrebild; auf einem Rasenplatz, am Eingang ei¬
nes Dörfchens, standen zwei Reihen kleiner Jungen in militärischer
Ordnung einander gegenüber und übten sich im Boren; zwei Mäd¬
chen und ein Hühnerhund, die außer dem Bereich der kleinen Fäuste
standen, schienen als Kampfrichter zuzuschauen.

Die Stationen folgten immer schneller auf einander und wir
fuhren weit zwischen großen Gebäuden, Gärten und Landhäusern hin.


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Auch auf der Eisenbahn findet man noch einen Nest von alt-
englische», Kasten- und Geldkistengeist. Zwischen den Wagen erster
und dritter Klasse ist eine Kluft, nicht wie zwischen Reich und Arm,
sondern wie zwischen NabobS und Bettlern, wie zwischen Pallmall
und Newgate. In Deutschland und Belgien ist die wohlfeile dritte
Wagenklasse für das Volk eingerichtet und es kann zur Noth, bei
schönem Wetter, auch ein Gentleman sich unter das Volk mischen.
Hier aber wird das ärmere Volk entweder vom Genusse der Eisen¬
bahnen ganz ausgeschlossen — denn die zweite Klasse ist schon an¬
sehnlich theuer — oder es muß sich als mob, als Canaille behan¬
deln lassen. Die Wagen dritter Klasse sind nicht nur ohne Dach,
sondern auch ohne Sitze: leere hölzerne Kasten, durch zwei gekreuzte
Balken in vier Abtheilungen geschieden, in welche die Passagiere ste¬
hend und dicht zusammengedrängt werden, wie die Schafe in der
Hürde oder wie die Neger im Sklavenschiff. — Dagegen verhält
sich der englische Dampf zum deutschen, wie ein Wettrenner zum
Karrengaul. Die Strecke von Dover nach London legt man in nicht
ganz vier Stunden zurück und das gilt für eine mittlere Geschwin¬
digkeit, Man passirt dabei mehrere endlose, durch Felsen gehauene
Tunnels. Der Abend hatte sich aufgeheitert und ich sah, in die Ecke
meines mit polirtem Holz ausgetäfelten Wagens zweiter Klasse ge¬
drückt, die erquickend grünen Landschaften wie im Guckkasten vorüber-
fliegen. Meine Reisegefährten auf den drei übrigen Plätzen waren
einsylbig, aber freundlich, und pflegten, da sie meine Neugier bemerk¬
ten, mir die Namen einzelner Orte zu nennen. Die kleine Seestadt
Folkestone sieht man von der Bahn, wie von der Höhe eines Ber¬
ges, im Schooß einer kleinen Bucht liegen; ein Kirchthmm von
Folkestone, dem gegenüber der Mast eines großen Schiffes auf dem
Seespiegel tanzte, — beides in der Entfernung wie Spielzeug anzu¬
sehen, — bot ein hübsches Miniaturbild. Ein anderesmal sah ich
ein echt englisches Genrebild; auf einem Rasenplatz, am Eingang ei¬
nes Dörfchens, standen zwei Reihen kleiner Jungen in militärischer
Ordnung einander gegenüber und übten sich im Boren; zwei Mäd¬
chen und ein Hühnerhund, die außer dem Bereich der kleinen Fäuste
standen, schienen als Kampfrichter zuzuschauen.

Die Stationen folgten immer schneller auf einander und wir
fuhren weit zwischen großen Gebäuden, Gärten und Landhäusern hin.


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[0539] Auch auf der Eisenbahn findet man noch einen Nest von alt- englische», Kasten- und Geldkistengeist. Zwischen den Wagen erster und dritter Klasse ist eine Kluft, nicht wie zwischen Reich und Arm, sondern wie zwischen NabobS und Bettlern, wie zwischen Pallmall und Newgate. In Deutschland und Belgien ist die wohlfeile dritte Wagenklasse für das Volk eingerichtet und es kann zur Noth, bei schönem Wetter, auch ein Gentleman sich unter das Volk mischen. Hier aber wird das ärmere Volk entweder vom Genusse der Eisen¬ bahnen ganz ausgeschlossen — denn die zweite Klasse ist schon an¬ sehnlich theuer — oder es muß sich als mob, als Canaille behan¬ deln lassen. Die Wagen dritter Klasse sind nicht nur ohne Dach, sondern auch ohne Sitze: leere hölzerne Kasten, durch zwei gekreuzte Balken in vier Abtheilungen geschieden, in welche die Passagiere ste¬ hend und dicht zusammengedrängt werden, wie die Schafe in der Hürde oder wie die Neger im Sklavenschiff. — Dagegen verhält sich der englische Dampf zum deutschen, wie ein Wettrenner zum Karrengaul. Die Strecke von Dover nach London legt man in nicht ganz vier Stunden zurück und das gilt für eine mittlere Geschwin¬ digkeit, Man passirt dabei mehrere endlose, durch Felsen gehauene Tunnels. Der Abend hatte sich aufgeheitert und ich sah, in die Ecke meines mit polirtem Holz ausgetäfelten Wagens zweiter Klasse ge¬ drückt, die erquickend grünen Landschaften wie im Guckkasten vorüber- fliegen. Meine Reisegefährten auf den drei übrigen Plätzen waren einsylbig, aber freundlich, und pflegten, da sie meine Neugier bemerk¬ ten, mir die Namen einzelner Orte zu nennen. Die kleine Seestadt Folkestone sieht man von der Bahn, wie von der Höhe eines Ber¬ ges, im Schooß einer kleinen Bucht liegen; ein Kirchthmm von Folkestone, dem gegenüber der Mast eines großen Schiffes auf dem Seespiegel tanzte, — beides in der Entfernung wie Spielzeug anzu¬ sehen, — bot ein hübsches Miniaturbild. Ein anderesmal sah ich ein echt englisches Genrebild; auf einem Rasenplatz, am Eingang ei¬ nes Dörfchens, standen zwei Reihen kleiner Jungen in militärischer Ordnung einander gegenüber und übten sich im Boren; zwei Mäd¬ chen und ein Hühnerhund, die außer dem Bereich der kleinen Fäuste standen, schienen als Kampfrichter zuzuschauen. Die Stationen folgten immer schneller auf einander und wir fuhren weit zwischen großen Gebäuden, Gärten und Landhäusern hin. 68»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/539>, abgerufen am 05.02.2025.