Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.Provinzialismen über, die eine glückliche Erwerbung für den Dichter Wie bei dem Belgier das Vlämische (Flamändische), so ist beim 67*
Provinzialismen über, die eine glückliche Erwerbung für den Dichter Wie bei dem Belgier das Vlämische (Flamändische), so ist beim 67*
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Provinzialismen über, die eine glückliche Erwerbung für den Dichter
und Redner sind, weil sie die Sprache mit treffenden Ausdrücken
und anschaulich malenden Worten bereichern. Eben deshalb verräth
im Süden oft auch der Gebildete durch Accent und Aussprache seine
fränkische, allemanische oder schwäbische Abstammung. Anders im
hohen Norden. In Hannover und Braunschweig z. B. wird neben
dem platten Vvlksvialekt das reinste Hochdeutsch gesprochen, denn
das Platt ist von der Schriftsprache zu verschieden, um auf dieselbe
noch einen merklichen Einfluß zu äußern; es ist kein rohes, sondern
ein veraltetes Idiom. Der oberdeutsche Dialekt verhält sich zum
Hochdeutschen, wie der moderne Dörfler zum modernen Städter: der
plattdeutsche Dialekt hingegen wie ein ehrenfester Neichsbürger aus
dem 16. Jahrhunderte zu dem gebildeten Staatsbürger des >9. Sä-
culumS.
Wie bei dem Belgier das Vlämische (Flamändische), so ist beim
Niederdeutschen das Platt überall die Sprache der Vertraulichkeit
und gleichsam das bequeme, gemüthliche Hauskleid; mit dem Land¬
volke oder dem Gesinde muß man es sprechen; am traulichen Ka¬
minfeuer dagegen, mit guten Freunden und in der Familie, da
spricht man eS aus Vorliebe. Es liegt die biedere Einfalt und die
ganze Geradheit der alten Zeit darin. Auf Plattdeutsch kann man
unmöglich sentimental und affectirt sein: das Idiom ist zu kernge¬
sund und einfach dazu. Freilich ist eS auch mehr geeignet, hand¬
greifliche Dinge als abstracte und ideale Begriffe auszudrücken; es
ist mehr geschaffen für den derben Humor als für lyrisches Pathos
und metaphysische Tiefe der Gedanken. Aber was schadet das? Wenn
der niederdeutsche seine geistigen Bedürfnisse befriedigen und sich in
eine höhere Stimmung versetzen will, so schlägt er seinen Göthe und
Schiller, seinen Herder und Lessing. oder seinen Rückert und Uhland
auf. Er braucht das Hochdeutsche nicht erst lange zu studiren; selbst
der Ungebildete gewohnt sich in sehr kurzer Zeit daran. Es ist ja
dieselbe Sprache, nur vergeistigt und verklärt, gleichsam ätherischer
geworden und beflügelt durch den Fortschritt der Zeiten. Um wie
viel glücklicher ist der niederdeutsche darin als der Vläme (Flamän-
der)! Auch dieser spricht seine alte niederdeutsche Mundart, so oft
sich ihm das Herz bewegt; wenn er in Liebe oder Freundschaft, in
Mitleid oder Freude sich Luft machen will, da bricht die germanische
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