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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.

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Genialität und Unsinn fließen oft untrennbar in einander; und dies
halten wir bei einem angehenden Poeten für ein besseres Zeichen, als
jene Gewandtheit im Versificiren moderner TendeNzsormeln, welche
man chen Adepten der norddeutschen "Wissenschaft ittlr >" "ileiv"""" in
einem austrocknenden Grade eigen ist. Titus Ulrich macht keine Phra¬
sen, im gewöhnlichen Sinne des Wortes, aber Bilder voll reckenhafter
Uebcrschwänglichkcit; schwindelnder Bombast und siebertraumartige Far¬
ben wechseln fortwährend Mit Empfindungen voll tiefer Wahrheit, mit
reizenden Anschauungen und kühnen dithyrambischen Tönen ab. Kurz,
der Verf. scheint eine sehr begabte und sehr junge Vollbtutnatur, die
eben in der Periode ist, wo deutsche Jünglinge ihren Sturm lind
Drang austoben. In den Berliner Schulen pflegen solche Früchte
nicht zu wachsen. Der Verf. hat sich vermuthlich nur durch Zufall
hinein verirrt.

Die Gestalt des Ganzen ist zu formlos, als daß eine genaue
Zergliederung möglich wäre. In der Einleitung anticipirt der'Dichter
das Resultat, zu welchem er im Schlußkapitel kommt: daß der Mensch
Gott sei. Im übrigen, d. h. im Haupttheil des Buches, soll, allem
Ansehen nach, gezeigt werden, wie der Dichter durch innere und äußere
Erlebnisse nothwendig bis zu jenem "freien Standpunkt" sich ^ent¬
wickeln" mußte. Aber eben so wenig als der Verfasser uns einen
deutlichen Begriff giebt von dem Leben, welches der Mensch als Gott
führt, eben so wenig zeigt er uns die consequente Nothwendigkeit je¬
ner Entwicklung. Umgekehrt, aus den meisten Lebensbildern und
Episoden, die der Poet einsticht, geht hervor, daß die Menschen sehr
jämmerliches Gewürm sind. Er selbst aber ist bald Faust und bald
Hamlet, dann nimmt er die Attitüde Hiobs an und dann wieder ruft
er Dante zu Hülfe; er liebt, er spielt, er verzweifelt, er dichtet, kurz
er treibt was nur ein poetischer Jüngling Alles treiben kann, er.ist
skeptisch, wie die kühnen Denker der Geschichte und Fabelzeit, er ist
zerrissen wie die nervenschwachen Heroen der Neuzeit und wir glauben
ihn schon im Sumpf der modernen Blasirtheit untergehen zu sehen,
da plötzlich gelingt ihm der 5!">to mortiil^ zu dem er schon früher
kleine Anlaufe genommen, er macht den Sprung auf den Götterthron
und -- empfehl mich ihnen. Charakteristisch ist auch folgender Um¬
stand. Wo Titus Ulrich seinen göttlichen Raps hat, da schreibt er
wie im Zustand einer Gehirnentzündung; wo er sich dagegen herab¬
läßt, blos Mensch zu sein, verräth er ein allerliebstes und reiches ly¬
risches Talent. So gehören der Weihnachtsabend, die Liebesgeschich¬
ten, die Revolutionssccncn und die Narurschilderungett zu den besten
und genießbarsten Partien seines Buches.

Und wir glauben, wenn Titus Ulrich noch ein, zwei Jahde ver¬
gehen läßt, so wird er es überhaupt vorziehen , ein talentvoller deut¬
scher Poet zu sein, als ein Gott unter Berliner Göttern.


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Genialität und Unsinn fließen oft untrennbar in einander; und dies
halten wir bei einem angehenden Poeten für ein besseres Zeichen, als
jene Gewandtheit im Versificiren moderner TendeNzsormeln, welche
man chen Adepten der norddeutschen „Wissenschaft ittlr >» «ileiv»«»" in
einem austrocknenden Grade eigen ist. Titus Ulrich macht keine Phra¬
sen, im gewöhnlichen Sinne des Wortes, aber Bilder voll reckenhafter
Uebcrschwänglichkcit; schwindelnder Bombast und siebertraumartige Far¬
ben wechseln fortwährend Mit Empfindungen voll tiefer Wahrheit, mit
reizenden Anschauungen und kühnen dithyrambischen Tönen ab. Kurz,
der Verf. scheint eine sehr begabte und sehr junge Vollbtutnatur, die
eben in der Periode ist, wo deutsche Jünglinge ihren Sturm lind
Drang austoben. In den Berliner Schulen pflegen solche Früchte
nicht zu wachsen. Der Verf. hat sich vermuthlich nur durch Zufall
hinein verirrt.

Die Gestalt des Ganzen ist zu formlos, als daß eine genaue
Zergliederung möglich wäre. In der Einleitung anticipirt der'Dichter
das Resultat, zu welchem er im Schlußkapitel kommt: daß der Mensch
Gott sei. Im übrigen, d. h. im Haupttheil des Buches, soll, allem
Ansehen nach, gezeigt werden, wie der Dichter durch innere und äußere
Erlebnisse nothwendig bis zu jenem „freien Standpunkt" sich ^ent¬
wickeln" mußte. Aber eben so wenig als der Verfasser uns einen
deutlichen Begriff giebt von dem Leben, welches der Mensch als Gott
führt, eben so wenig zeigt er uns die consequente Nothwendigkeit je¬
ner Entwicklung. Umgekehrt, aus den meisten Lebensbildern und
Episoden, die der Poet einsticht, geht hervor, daß die Menschen sehr
jämmerliches Gewürm sind. Er selbst aber ist bald Faust und bald
Hamlet, dann nimmt er die Attitüde Hiobs an und dann wieder ruft
er Dante zu Hülfe; er liebt, er spielt, er verzweifelt, er dichtet, kurz
er treibt was nur ein poetischer Jüngling Alles treiben kann, er.ist
skeptisch, wie die kühnen Denker der Geschichte und Fabelzeit, er ist
zerrissen wie die nervenschwachen Heroen der Neuzeit und wir glauben
ihn schon im Sumpf der modernen Blasirtheit untergehen zu sehen,
da plötzlich gelingt ihm der 5!»>to mortiil^ zu dem er schon früher
kleine Anlaufe genommen, er macht den Sprung auf den Götterthron
und — empfehl mich ihnen. Charakteristisch ist auch folgender Um¬
stand. Wo Titus Ulrich seinen göttlichen Raps hat, da schreibt er
wie im Zustand einer Gehirnentzündung; wo er sich dagegen herab¬
läßt, blos Mensch zu sein, verräth er ein allerliebstes und reiches ly¬
risches Talent. So gehören der Weihnachtsabend, die Liebesgeschich¬
ten, die Revolutionssccncn und die Narurschilderungett zu den besten
und genießbarsten Partien seines Buches.

Und wir glauben, wenn Titus Ulrich noch ein, zwei Jahde ver¬
gehen läßt, so wird er es überhaupt vorziehen , ein talentvoller deut¬
scher Poet zu sein, als ein Gott unter Berliner Göttern.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/523>, abgerufen am 05.02.2025.