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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.

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tastischer Traum ist, nicht ein fortwährender Kampf der Arbeit; am
wenigsten sind sie gemacht, mit Schotten und Engländern wetteifernd
am halben Gespann zu ziehen.

Bor Kurzem hat Venedev ein Werk über England herausgege¬
ben, über welches sich noch kein fertiges Urtheil fallen läßt, weil der
dritte Band noch in den Windeln der Brockhausischen Druckerei liegt.
Aber im Allgemeinen geht durch das Buch ein Ton, der von den
hergebrachten Tönen der Begeisterung für alles Englisch? sehr grell
absticht und darum gewiß die Aufmerksamkeit des deutschen Publi¬
kums im höchsten Grade anregen wird. Es ist besonders merkwürdig,
daß ein Deutscher, und zwar ein inbrünstiger, schwärmerischer Deut¬
scher, über das "stammverwandte" England so schneidend urtheilt, wie
man sonst nur Franzosen gewohnt ist urtheilen zu hören; daß ein
nationaler Deutscher von unsern "Vettern" über dem Canal sich star¬
ker abgestoßen fühlt als von unsern "Erbfeinden" über dem Rhein.
Freilich muß man nicht vergessen, daß Benedey erst Irland und dann
England sah. Die historische und streng politische Einleitung des
Werkes wage ich nicht, in diesem flüchtigen Brief zu kritisiren, aber
die Kapitel "Gegenwart", welche die zweite Hälfte des zweiten Ban¬
des ausmachen, scheinen mir für Vcnedev's Talent und Anschauungs¬
weise ganz bezeichnend. Alles in England, wodurch ein reiches Ge¬
müth, ein humaner Sinn verletzt werden muß -- und daran fehlt es
dort nicht -- ist in einer Reihe von abrupten, pointirter, dunkel
schattirter Skizzen zusammengefaßt, und wer sich der Eindrücke erin¬
nert, die London zum ersten Mal auf ihn machte, wird nicht läugnen
können, daß in Venedey's Schilderungen viel Treffendes, scharfes und
jedenfalls Wahrgefühltes ist. Man nehme dazu, daß der Verrf. nach
der Riesenstadt mitten im Winter kam, wo ein Fremder es doppelt
schwer findet, sich heimisch zu fühlen, und man begreift, wie seine
Skizzen oft zu Nachtstücken werden mußten und wie er mit dem
Scharfsinn der Empfindlichkeit in jeder kleinen Nuance des gesellschaft¬
lichen Lebens, in jeder hergebrachten Wendung der Sprache, in jedem
Brauch, der von deutschen und französischen Gewohnheiten abweicht,
von der Einführungsphrase im 6i-noir^-i"om bis zum Thürklopfer¬
reglement, einen neuen Stachel entdeckt und einen neuen Beleg für
seine trostlose Gesammtanstcht vom britischen Nationalcharakter. Die
zahllosen Lichtseiten des englischen Wesens dagegen sind überall nur
flüchtig angedeutet; in die schöne Heimlichkeit des Familienlebens der
mittlern Stande z. B. hat er nur manchmal einen "verstohlenen
Blick" werfen können. Eines ist, worauf er stets mit bewundernder
Anerkennung zurückkommt: die furchtbare Willenskraft und der eiserne
Heroismus des englischen Volkes. Allein auch diese Größe macht im
Venedev'schen Gemälde nur einen unheimlichen Eindruck; sie ist ja
mit so tiefer Heuchelei, so eiskaltem Egoismus, so crasser Habgier


tastischer Traum ist, nicht ein fortwährender Kampf der Arbeit; am
wenigsten sind sie gemacht, mit Schotten und Engländern wetteifernd
am halben Gespann zu ziehen.

Bor Kurzem hat Venedev ein Werk über England herausgege¬
ben, über welches sich noch kein fertiges Urtheil fallen läßt, weil der
dritte Band noch in den Windeln der Brockhausischen Druckerei liegt.
Aber im Allgemeinen geht durch das Buch ein Ton, der von den
hergebrachten Tönen der Begeisterung für alles Englisch? sehr grell
absticht und darum gewiß die Aufmerksamkeit des deutschen Publi¬
kums im höchsten Grade anregen wird. Es ist besonders merkwürdig,
daß ein Deutscher, und zwar ein inbrünstiger, schwärmerischer Deut¬
scher, über das „stammverwandte" England so schneidend urtheilt, wie
man sonst nur Franzosen gewohnt ist urtheilen zu hören; daß ein
nationaler Deutscher von unsern „Vettern" über dem Canal sich star¬
ker abgestoßen fühlt als von unsern „Erbfeinden" über dem Rhein.
Freilich muß man nicht vergessen, daß Benedey erst Irland und dann
England sah. Die historische und streng politische Einleitung des
Werkes wage ich nicht, in diesem flüchtigen Brief zu kritisiren, aber
die Kapitel „Gegenwart", welche die zweite Hälfte des zweiten Ban¬
des ausmachen, scheinen mir für Vcnedev's Talent und Anschauungs¬
weise ganz bezeichnend. Alles in England, wodurch ein reiches Ge¬
müth, ein humaner Sinn verletzt werden muß — und daran fehlt es
dort nicht — ist in einer Reihe von abrupten, pointirter, dunkel
schattirter Skizzen zusammengefaßt, und wer sich der Eindrücke erin¬
nert, die London zum ersten Mal auf ihn machte, wird nicht läugnen
können, daß in Venedey's Schilderungen viel Treffendes, scharfes und
jedenfalls Wahrgefühltes ist. Man nehme dazu, daß der Verrf. nach
der Riesenstadt mitten im Winter kam, wo ein Fremder es doppelt
schwer findet, sich heimisch zu fühlen, und man begreift, wie seine
Skizzen oft zu Nachtstücken werden mußten und wie er mit dem
Scharfsinn der Empfindlichkeit in jeder kleinen Nuance des gesellschaft¬
lichen Lebens, in jeder hergebrachten Wendung der Sprache, in jedem
Brauch, der von deutschen und französischen Gewohnheiten abweicht,
von der Einführungsphrase im 6i-noir^-i»om bis zum Thürklopfer¬
reglement, einen neuen Stachel entdeckt und einen neuen Beleg für
seine trostlose Gesammtanstcht vom britischen Nationalcharakter. Die
zahllosen Lichtseiten des englischen Wesens dagegen sind überall nur
flüchtig angedeutet; in die schöne Heimlichkeit des Familienlebens der
mittlern Stande z. B. hat er nur manchmal einen „verstohlenen
Blick" werfen können. Eines ist, worauf er stets mit bewundernder
Anerkennung zurückkommt: die furchtbare Willenskraft und der eiserne
Heroismus des englischen Volkes. Allein auch diese Größe macht im
Venedev'schen Gemälde nur einen unheimlichen Eindruck; sie ist ja
mit so tiefer Heuchelei, so eiskaltem Egoismus, so crasser Habgier


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/508>, abgerufen am 05.02.2025.